und Senkungen, die Falten und Fältchen dürfen ihr feineres Netz über das Feld des Angesichts ziehen; ein durchfurchter, durcharbeiteter Kopf ist mehr malerisch, als ein glatter, jugendlich blühender. Damit ist natürlich die mikroskopische Behandlung eines Ignaz Denner nicht gerechtfertigt, denn auch in der Malerei hat der Naturalismus seine Grenzen, auch das Hervorheben des Einzelnen unterscheidet wieder zwischen Wesentlichem, Sprechendem und Unwesentlichem, nicht Sprechendem. Daß das Indivi- duelle namentlich im Kopfe seinen Sitz hat, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die Hände werden nun in demselben Sinne behandelt und tritt in Anwendung, was zu §. 338 über ihre Formen gesagt ist. Eine solche Contrastwirkung, wie sie in Titian's Zinsgroschen bis in den Gegensatz der Hände, der gemeinen, rohen, braunen des Pharisäers und der reinen, seelischen Hand Christi sich herunter erstreckt, könnte die Sculp- tur nimmermehr geben. Im Nackten tritt nun aber die Zurückziehung des ästhetischen Nachdrucks auf diese vorzüglich sprechenden Theile noch nicht völlig in Kraft; die Malerei muß, wenn es damit Ernst werden soll, im Wesentlichen die bekleidete Gestalt vorziehen. Mit der geistigeren Behandlung muß auch die Schaam des Geistes an seinem Körper, eine nothwendige Folge seines tieferen Bewußtseins, in der Kunst geltend wer- den und es entspringt ihr daraus unmittelbar das Motiv, eben durch den Gegensatz des Verhüllten die unverhüllten edelsten Theile zu heben. Wir haben von der sinnlichen Wirkung der Farbe in und zu §. 652 gesprochen; es ist natürlich, daß sie in der Darstellung menschlicher Nacktheit besonders leicht in pathologischen Reiz übergeht. Keineswegs kann es darum der Malerei versagt sein, das Wundergewächse des Körpers auch in der Zu- sammenwirkung seines warmen Farbenlebens mit dem Reize der Formen zu enthüllen, ohne darum den Ausdruck höher, als zu einer Stimmung unschuldiger Sinnlichkeit zu steigern; allein das Schwere ist eben, die volle Sinnlichkeit selbst unschuldig darzustellen und durch die Höhe der Kunst jeden Anreiz zur Begierde im Zuschauer vor der Bewunderung des Meisterwerks der Natur niederzuhalten; was ein Titian vermag, das kann nicht Jeder. Es bleibt aber dabei, daß die bekleidete Gestalt der malerischen Auffassung mehr entspricht, und das veränderte Stylgesetz be- dingt nun auch eine andere Art von Gewandung, als das der Plastik: wenn die Formschönheit an sich nicht mehr das Bestimmende in der Auf- fassung ist, so muß die Forderung fallen, daß das Gewand als ein Echo, ein fortgesetzter, vervielfältigter Rhythmus der organischen Bildung er- scheine. Es mag da den Körper härter, schärfer umschnüren, dort will- kührlicher von ihm abschweifen; der Menschengeist, der jenes schöne Gleichgewicht verlassen hat, darf und soll sich auch dadurch ausdrücken, daß er freier mit seinen Umhüllungen spielt; Farbe, Schmuck edler Metalle,
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und Senkungen, die Falten und Fältchen dürfen ihr feineres Netz über das Feld des Angeſichts ziehen; ein durchfurchter, durcharbeiteter Kopf iſt mehr maleriſch, als ein glatter, jugendlich blühender. Damit iſt natürlich die mikroſkopiſche Behandlung eines Ignaz Denner nicht gerechtfertigt, denn auch in der Malerei hat der Naturaliſmus ſeine Grenzen, auch das Hervorheben des Einzelnen unterſcheidet wieder zwiſchen Weſentlichem, Sprechendem und Unweſentlichem, nicht Sprechendem. Daß das Indivi- duelle namentlich im Kopfe ſeinen Sitz hat, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die Hände werden nun in demſelben Sinne behandelt und tritt in Anwendung, was zu §. 338 über ihre Formen geſagt iſt. Eine ſolche Contraſtwirkung, wie ſie in Titian’s Zinsgroſchen bis in den Gegenſatz der Hände, der gemeinen, rohen, braunen des Phariſäers und der reinen, ſeeliſchen Hand Chriſti ſich herunter erſtreckt, könnte die Sculp- tur nimmermehr geben. Im Nackten tritt nun aber die Zurückziehung des äſthetiſchen Nachdrucks auf dieſe vorzüglich ſprechenden Theile noch nicht völlig in Kraft; die Malerei muß, wenn es damit Ernſt werden ſoll, im Weſentlichen die bekleidete Geſtalt vorziehen. Mit der geiſtigeren Behandlung muß auch die Schaam des Geiſtes an ſeinem Körper, eine nothwendige Folge ſeines tieferen Bewußtſeins, in der Kunſt geltend wer- den und es entſpringt ihr daraus unmittelbar das Motiv, eben durch den Gegenſatz des Verhüllten die unverhüllten edelſten Theile zu heben. Wir haben von der ſinnlichen Wirkung der Farbe in und zu §. 652 geſprochen; es iſt natürlich, daß ſie in der Darſtellung menſchlicher Nacktheit beſonders leicht in pathologiſchen Reiz übergeht. Keineswegs kann es darum der Malerei verſagt ſein, das Wundergewächſe des Körpers auch in der Zu- ſammenwirkung ſeines warmen Farbenlebens mit dem Reize der Formen zu enthüllen, ohne darum den Ausdruck höher, als zu einer Stimmung unſchuldiger Sinnlichkeit zu ſteigern; allein das Schwere iſt eben, die volle Sinnlichkeit ſelbſt unſchuldig darzuſtellen und durch die Höhe der Kunſt jeden Anreiz zur Begierde im Zuſchauer vor der Bewunderung des Meiſterwerks der Natur niederzuhalten; was ein Titian vermag, das kann nicht Jeder. Es bleibt aber dabei, daß die bekleidete Geſtalt der maleriſchen Auffaſſung mehr entſpricht, und das veränderte Stylgeſetz be- dingt nun auch eine andere Art von Gewandung, als das der Plaſtik: wenn die Formſchönheit an ſich nicht mehr das Beſtimmende in der Auf- faſſung iſt, ſo muß die Forderung fallen, daß das Gewand als ein Echo, ein fortgeſetzter, vervielfältigter Rhythmus der organiſchen Bildung er- ſcheine. Es mag da den Körper härter, ſchärfer umſchnüren, dort will- kührlicher von ihm abſchweifen; der Menſchengeiſt, der jenes ſchöne Gleichgewicht verlaſſen hat, darf und ſoll ſich auch dadurch ausdrücken, daß er freier mit ſeinen Umhüllungen ſpielt; Farbe, Schmuck edler Metalle,
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und Senkungen, die Falten und Fältchen dürfen ihr feineres Netz über
das Feld des Angeſichts ziehen; ein durchfurchter, durcharbeiteter Kopf iſt
mehr maleriſch, als ein glatter, jugendlich blühender. Damit iſt natürlich
die mikroſkopiſche Behandlung eines Ignaz Denner nicht gerechtfertigt,
denn auch in der Malerei hat der Naturaliſmus ſeine Grenzen, auch das
Hervorheben des Einzelnen unterſcheidet wieder zwiſchen Weſentlichem,
Sprechendem und Unweſentlichem, nicht Sprechendem. Daß das Indivi-
duelle namentlich im Kopfe ſeinen Sitz hat, bedarf keiner weiteren
Ausführung. Die Hände werden nun in demſelben Sinne behandelt
und tritt in Anwendung, was zu §. 338 über ihre Formen geſagt iſt.
Eine ſolche Contraſtwirkung, wie ſie in Titian’s Zinsgroſchen bis in den
Gegenſatz der Hände, der gemeinen, rohen, braunen des Phariſäers und
der reinen, ſeeliſchen Hand Chriſti ſich herunter erſtreckt, könnte die Sculp-
tur nimmermehr geben. Im Nackten tritt nun aber die Zurückziehung
des äſthetiſchen Nachdrucks auf dieſe vorzüglich ſprechenden Theile noch
nicht völlig in Kraft; die Malerei muß, wenn es damit Ernſt werden
ſoll, im Weſentlichen die bekleidete Geſtalt vorziehen. Mit der geiſtigeren
Behandlung muß auch die Schaam des Geiſtes an ſeinem Körper, eine
nothwendige Folge ſeines tieferen Bewußtſeins, in der Kunſt geltend wer-
den und es entſpringt ihr daraus unmittelbar das Motiv, eben durch den
Gegenſatz des Verhüllten die unverhüllten edelſten Theile zu heben. Wir
haben von der ſinnlichen Wirkung der Farbe in und zu §. 652 geſprochen;
es iſt natürlich, daß ſie in der Darſtellung menſchlicher Nacktheit beſonders
leicht in pathologiſchen Reiz übergeht. Keineswegs kann es darum der
Malerei verſagt ſein, das Wundergewächſe des Körpers auch in der Zu-
ſammenwirkung ſeines warmen Farbenlebens mit dem Reize der Formen
zu enthüllen, ohne darum den Ausdruck höher, als zu einer Stimmung
unſchuldiger Sinnlichkeit zu ſteigern; allein das Schwere iſt eben, die
volle Sinnlichkeit ſelbſt unſchuldig darzuſtellen und durch die Höhe der
Kunſt jeden Anreiz zur Begierde im Zuſchauer vor der Bewunderung des
Meiſterwerks der Natur niederzuhalten; was ein Titian vermag, das
kann nicht Jeder. Es bleibt aber dabei, daß die bekleidete Geſtalt der
maleriſchen Auffaſſung mehr entſpricht, und das veränderte Stylgeſetz be-
dingt nun auch eine andere Art von Gewandung, als das der Plaſtik:
wenn die Formſchönheit an ſich nicht mehr das Beſtimmende in der Auf-
faſſung iſt, ſo muß die Forderung fallen, daß das Gewand als ein Echo,
ein fortgeſetzter, vervielfältigter Rhythmus der organiſchen Bildung er-
ſcheine. Es mag da den Körper härter, ſchärfer umſchnüren, dort will-
kührlicher von ihm abſchweifen; der Menſchengeiſt, der jenes ſchöne
Gleichgewicht verlaſſen hat, darf und ſoll ſich auch dadurch ausdrücken,
daß er freier mit ſeinen Umhüllungen ſpielt; Farbe, Schmuck edler Metalle,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/95>, abgerufen am 16.02.2025.
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