Verbrämtes, Gesticktes u. s. w. leiten auch hier das Auge von der Form ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plastischen sich in einer Weise unterscheiden, welche dem entspricht, was im vorh. §. über das malerische Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen gesagt ist; getragener, gebrauchter wird das Kleid sich in ein Faltenwerk legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menschen in dieß sein nächstes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch die Malerei muß sich bedeutende Faltenmassen vorbehalten, deren Lauf und Form nicht blos vom Schneider, sondern von der organischen Bildung bedingt ist, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, sondern kräftig fließend erscheint, und das Anliegende, was im malerischen Styl neben dem frei Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend sein und nicht in verkehrter Weise vom Glied wieder abweichen. Der Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverständniß der organischen Form und schlechte Zeichnung verstecken zu dürfen; der rechte Zeichner zeichnet auch die bekleidete Figur in seiner Skizze nackt und bestimmt da- nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male- risches Gesetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als physiognomisch be- zeichnet werden; noch mehr der bestimmtere Ausdruck, den auch hier noch das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufsetzt, zerknüllt, ver- biegt, wie er den Mantel umschlägt u. s. w. Auch in den Waffen dür- fen sich nun härtere und phantastischere Formen zeigen. -- Diese ganze Auffassungsweise gilt nun zunächst dem im engeren Sinne malerischen Styl. Natürlich ist es aber gerade das menschliche Gebiet, worin auch der plastische Styl das ganze Recht seines Bestands neben jenem geltend macht. Wir haben die bloße Relativität seiner Berechtigung, seine Pflicht, ein ungleich stärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als Marmor und Erz es zuläßt, in sich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl- lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn sie nicht zu sehr der Geschichte vorgreifen will. Wir werden sehen, wie sich selbst die antike Malerei, die im strengsten Sinne plastisch ist, doch von der eigent- lichen Plastik unterscheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plasti- schen Styl in Italien gegenüber dem ächt malerischen in Deutschland und den Niederlanden sich voller und voller mit seinem Gegensatze schwängern sehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegensatz trotzdem, daß er ein Gegensatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma- lerischen Standpuncts ist, und trotz seiner weiteren Milderung klar und bestimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergestalten der großen italienischen Meister, insbesondere des Raphael, sind in gewissem Sinn plastische Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der
Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plaſtiſchen ſich in einer Weiſe unterſcheiden, welche dem entſpricht, was im vorh. §. über das maleriſche Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen geſagt iſt; getragener, gebrauchter wird das Kleid ſich in ein Faltenwerk legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menſchen in dieß ſein nächſtes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch die Malerei muß ſich bedeutende Faltenmaſſen vorbehalten, deren Lauf und Form nicht blos vom Schneider, ſondern von der organiſchen Bildung bedingt iſt, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, ſondern kräftig fließend erſcheint, und das Anliegende, was im maleriſchen Styl neben dem frei Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend ſein und nicht in verkehrter Weiſe vom Glied wieder abweichen. Der Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverſtändniß der organiſchen Form und ſchlechte Zeichnung verſtecken zu dürfen; der rechte Zeichner zeichnet auch die bekleidete Figur in ſeiner Skizze nackt und beſtimmt da- nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male- riſches Geſetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als phyſiognomiſch be- zeichnet werden; noch mehr der beſtimmtere Ausdruck, den auch hier noch das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufſetzt, zerknüllt, ver- biegt, wie er den Mantel umſchlägt u. ſ. w. Auch in den Waffen dür- fen ſich nun härtere und phantaſtiſchere Formen zeigen. — Dieſe ganze Auffaſſungsweiſe gilt nun zunächſt dem im engeren Sinne maleriſchen Styl. Natürlich iſt es aber gerade das menſchliche Gebiet, worin auch der plaſtiſche Styl das ganze Recht ſeines Beſtands neben jenem geltend macht. Wir haben die bloße Relativität ſeiner Berechtigung, ſeine Pflicht, ein ungleich ſtärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als Marmor und Erz es zuläßt, in ſich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl- lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn ſie nicht zu ſehr der Geſchichte vorgreifen will. Wir werden ſehen, wie ſich ſelbſt die antike Malerei, die im ſtrengſten Sinne plaſtiſch iſt, doch von der eigent- lichen Plaſtik unterſcheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plaſti- ſchen Styl in Italien gegenüber dem ächt maleriſchen in Deutſchland und den Niederlanden ſich voller und voller mit ſeinem Gegenſatze ſchwängern ſehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegenſatz trotzdem, daß er ein Gegenſatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma- leriſchen Standpuncts iſt, und trotz ſeiner weiteren Milderung klar und beſtimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergeſtalten der großen italieniſchen Meiſter, insbeſondere des Raphael, ſind in gewiſſem Sinn plaſtiſche Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der
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Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form
ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plaſtiſchen
ſich in einer Weiſe unterſcheiden, welche dem entſpricht, was im vorh. §.
über das maleriſche Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen
geſagt iſt; getragener, gebrauchter wird das Kleid ſich in ein Faltenwerk
legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menſchen in dieß ſein
nächſtes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch
die Malerei muß ſich bedeutende Faltenmaſſen vorbehalten, deren Lauf und
Form nicht blos vom Schneider, ſondern von der organiſchen Bildung
bedingt iſt, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, ſondern kräftig fließend
erſcheint, und das Anliegende, was im maleriſchen Styl neben dem frei
Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend
ſein und nicht in verkehrter Weiſe vom Glied wieder abweichen. Der
Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverſtändniß der organiſchen
Form und ſchlechte Zeichnung verſtecken zu dürfen; der rechte Zeichner
zeichnet auch die bekleidete Figur in ſeiner Skizze nackt und beſtimmt da-
nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male-
riſches Geſetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als phyſiognomiſch be-
zeichnet werden; noch mehr der beſtimmtere Ausdruck, den auch hier noch
das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufſetzt, zerknüllt, ver-
biegt, wie er den Mantel umſchlägt u. ſ. w. Auch in den Waffen dür-
fen ſich nun härtere und phantaſtiſchere Formen zeigen. — Dieſe ganze
Auffaſſungsweiſe gilt nun zunächſt dem im engeren Sinne maleriſchen Styl.
Natürlich iſt es aber gerade das menſchliche Gebiet, worin auch der
plaſtiſche Styl das ganze Recht ſeines Beſtands neben jenem geltend
macht. Wir haben die bloße Relativität ſeiner Berechtigung, ſeine Pflicht,
ein ungleich ſtärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als
Marmor und Erz es zuläßt, in ſich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl-
lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn ſie nicht zu ſehr
der Geſchichte vorgreifen will. Wir werden ſehen, wie ſich ſelbſt die
antike Malerei, die im ſtrengſten Sinne plaſtiſch iſt, doch von der eigent-
lichen Plaſtik unterſcheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plaſti-
ſchen Styl in Italien gegenüber dem ächt maleriſchen in Deutſchland und
den Niederlanden ſich voller und voller mit ſeinem Gegenſatze ſchwängern
ſehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs
in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegenſatz trotzdem, daß
er ein Gegenſatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma-
leriſchen Standpuncts iſt, und trotz ſeiner weiteren Milderung klar und
beſtimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergeſtalten der großen
italieniſchen Meiſter, insbeſondere des Raphael, ſind in gewiſſem Sinn
plaſtiſche Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/96>, abgerufen am 05.07.2024.
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