Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.Verbrämtes, Gesticktes u. s. w. leiten auch hier das Auge von der Form Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <pb facs="#f0096" n="588"/> <hi rendition="#et">Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form<lb/> ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plaſtiſchen<lb/> ſich in einer Weiſe unterſcheiden, welche dem entſpricht, was im vorh. §.<lb/> über das maleriſche Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen<lb/> geſagt iſt; getragener, gebrauchter wird das Kleid ſich in ein Faltenwerk<lb/> legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menſchen in dieß ſein<lb/> nächſtes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch<lb/> die Malerei muß ſich bedeutende Faltenmaſſen vorbehalten, deren Lauf und<lb/> Form nicht blos vom Schneider, ſondern von der organiſchen Bildung<lb/> bedingt iſt, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, ſondern kräftig fließend<lb/> erſcheint, und das Anliegende, was im maleriſchen Styl neben dem frei<lb/> Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend<lb/> ſein und nicht in verkehrter Weiſe vom Glied wieder abweichen. Der<lb/> Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverſtändniß der organiſchen<lb/> Form und ſchlechte Zeichnung verſtecken zu dürfen; der rechte Zeichner<lb/> zeichnet auch die bekleidete Figur in ſeiner Skizze nackt und beſtimmt da-<lb/> nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male-<lb/> riſches Geſetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als phyſiognomiſch be-<lb/> zeichnet werden; noch mehr der beſtimmtere Ausdruck, den auch hier noch<lb/> das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufſetzt, zerknüllt, ver-<lb/> biegt, wie er den Mantel umſchlägt u. ſ. w. Auch in den Waffen dür-<lb/> fen ſich nun härtere und phantaſtiſchere Formen zeigen. — Dieſe ganze<lb/> Auffaſſungsweiſe gilt nun zunächſt dem im engeren Sinne maleriſchen Styl.<lb/> Natürlich iſt es aber gerade das menſchliche Gebiet, worin auch der<lb/> plaſtiſche Styl das ganze Recht ſeines Beſtands neben jenem geltend<lb/> macht. Wir haben die bloße Relativität ſeiner Berechtigung, ſeine Pflicht,<lb/> ein ungleich ſtärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als<lb/> Marmor und Erz es zuläßt, in ſich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl-<lb/> lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn ſie nicht zu ſehr<lb/> der Geſchichte vorgreifen will. Wir werden ſehen, wie ſich ſelbſt die<lb/> antike Malerei, die im ſtrengſten Sinne plaſtiſch iſt, doch von der eigent-<lb/> lichen Plaſtik unterſcheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plaſti-<lb/> ſchen Styl in Italien gegenüber dem ächt maleriſchen in Deutſchland und<lb/> den Niederlanden ſich voller und voller mit ſeinem Gegenſatze ſchwängern<lb/> ſehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs<lb/> in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegenſatz trotzdem, daß<lb/> er ein Gegenſatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma-<lb/> leriſchen Standpuncts iſt, und trotz ſeiner weiteren Milderung klar und<lb/> beſtimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergeſtalten der großen<lb/> italieniſchen Meiſter, insbeſondere des Raphael, ſind in gewiſſem Sinn<lb/> plaſtiſche Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [588/0096]
Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form
ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plaſtiſchen
ſich in einer Weiſe unterſcheiden, welche dem entſpricht, was im vorh. §.
über das maleriſche Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen
geſagt iſt; getragener, gebrauchter wird das Kleid ſich in ein Faltenwerk
legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menſchen in dieß ſein
nächſtes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch
die Malerei muß ſich bedeutende Faltenmaſſen vorbehalten, deren Lauf und
Form nicht blos vom Schneider, ſondern von der organiſchen Bildung
bedingt iſt, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, ſondern kräftig fließend
erſcheint, und das Anliegende, was im maleriſchen Styl neben dem frei
Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend
ſein und nicht in verkehrter Weiſe vom Glied wieder abweichen. Der
Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverſtändniß der organiſchen
Form und ſchlechte Zeichnung verſtecken zu dürfen; der rechte Zeichner
zeichnet auch die bekleidete Figur in ſeiner Skizze nackt und beſtimmt da-
nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male-
riſches Geſetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als phyſiognomiſch be-
zeichnet werden; noch mehr der beſtimmtere Ausdruck, den auch hier noch
das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufſetzt, zerknüllt, ver-
biegt, wie er den Mantel umſchlägt u. ſ. w. Auch in den Waffen dür-
fen ſich nun härtere und phantaſtiſchere Formen zeigen. — Dieſe ganze
Auffaſſungsweiſe gilt nun zunächſt dem im engeren Sinne maleriſchen Styl.
Natürlich iſt es aber gerade das menſchliche Gebiet, worin auch der
plaſtiſche Styl das ganze Recht ſeines Beſtands neben jenem geltend
macht. Wir haben die bloße Relativität ſeiner Berechtigung, ſeine Pflicht,
ein ungleich ſtärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als
Marmor und Erz es zuläßt, in ſich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl-
lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn ſie nicht zu ſehr
der Geſchichte vorgreifen will. Wir werden ſehen, wie ſich ſelbſt die
antike Malerei, die im ſtrengſten Sinne plaſtiſch iſt, doch von der eigent-
lichen Plaſtik unterſcheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plaſti-
ſchen Styl in Italien gegenüber dem ächt maleriſchen in Deutſchland und
den Niederlanden ſich voller und voller mit ſeinem Gegenſatze ſchwängern
ſehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs
in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegenſatz trotzdem, daß
er ein Gegenſatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma-
leriſchen Standpuncts iſt, und trotz ſeiner weiteren Milderung klar und
beſtimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergeſtalten der großen
italieniſchen Meiſter, insbeſondere des Raphael, ſind in gewiſſem Sinn
plaſtiſche Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der
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