Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.gendere Gesichtslinie, die stärkeren individuellen Abweichungen der Gestalt gendere Geſichtslinie, die ſtärkeren individuellen Abweichungen der Geſtalt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <pb facs="#f0094" n="586"/> <hi rendition="#et">gendere Geſichtslinie, die ſtärkeren individuellen Abweichungen der Geſtalt<lb/> bei den Völkern, die der Grieche insgeſammt Barbaren genannt hätte,<lb/> werden ihm zuſagen. Im Profil z. B. haben wir die Bedeutung der<lb/> graden Linie erkannt, die von der Stirn zur Naſe führt. Dagegen zeigt<lb/> nun eine abſpringende Linie an, daß Geiſt und ſinnliches Leben zur Tren-<lb/> nung neigen, daß die Perſönlichkeit alſo einen Bruch in ſich trägt, daß<lb/> ſie alſo einen verwickelteren, tieferen Prozeß zu vollziehen hat, um zu leben,<lb/> um harmoniſch zu leben, und dieſen Ausdruck eben will die Malerei. So ar-<lb/> beitet denn, mag der Stoff ſo oder ſo beſchaffen ſein, auch die Stylgebung<lb/> überall nicht auf die verallgemeinernde Durchſchnitts-Linie, ſondern darauf,<lb/> daß das Allgemeine in die beſondern Formen der Lebensalter, Geſchlechter,<lb/> Zuſtände, Stände und in die Individualität ſcharf zuſammengefaßt erſcheine<lb/> und aus dem Bruche der Eigenheit um ſo concentrirter der Blitz des in-<lb/> nern Lebens herausſpringe. Die Runzel des Alters, die Erdfahlheit des<lb/> Siechthums, die Verkrümmung und Verwitterung durch einſeitige Arbeit mag<lb/> frei zur Darſtellung kommen wie die Grille der Naturbildung im Einzel-<lb/> nen: Stirne, Blick, Handlung prägt ihr den Accent des Geiſtes auf.<lb/> Wir nennen dieſe Auffaſſung und Behandlung im Allgemeinen die phy-<lb/> ſiognomiſche, d. h. die auf die kennzeichnende, bedeutungsvolle Schärfe<lb/> der Einzelzüge gerichtete (vergl. §. 338, wo das Phyſiognomiſche zuerſt<lb/> noch abgeſehen von den Zügen eingeführt iſt, welche die Arbeit des Wil-<lb/> lens der Geſtalt aufdrückt). Wie nun mit der Geſtalt, ſo verhält es ſich<lb/> auch mit den Cultur-Formen. Was zunächſt den Theil derſelben betrifft,<lb/> welcher die menſchliche Geſtalt günſtig oder ungünſtig entwickelt und auf-<lb/> zeigt, ſo wird freilich auch die Malerei ohne beſonderes Motiv, d. h. wo<lb/> ſie nicht furchtbar und mitleiderregend oder komiſch wirken will, auf<lb/> glückliche und geſunde Zuſtände in dieſem Gebiete nicht verzichten; doch<lb/> wird ſie ſchon darum weniger ſtrenge ſein, als die Sculptur, weil<lb/> ſie ihrem Weſen nach nicht die Vorliebe für das Nackte hat, wie die<lb/> Plaſtik. Wir werden hierauf zurückkommen; vorerſt iſt, was die Behand-<lb/> lung des Körpers im Allgemeinen betrifft, einleuchtend, daß die Malerei<lb/> gemäß ihrem naturaliſtiſchen Styl-Prinzip Muſkel, Sehnen, Adern weit<lb/> beſtimmter in das Einzelne ausdrückt, als die Plaſtik; ſcheint es, als ob<lb/> dadurch die empiriſchen Bedingungen des Lebens ſich zu ſcharf ausprägen,<lb/> ſo iſt es wieder der Strom und Lebenshauch, den die Farbe über alles<lb/> Einzelne hinzieht, wodurch alle Härten ſich in den idealen Rhythmus des<lb/> Ganzen auflöſen. Natürlich wirft nun der maleriſche Zweck das Haupt-<lb/> gewicht der äſthetiſchen Geltung auf die vorzüglich ſprechenden Theile,<lb/><hi rendition="#g">Angeſicht</hi> und <hi rendition="#g">Hände</hi>; und an dieſen vorzüglich macht das Naturali-<lb/> ſiren und Individualiſiren, die phyſiognomiſche Auffaſſung ſich geltend.<lb/> Die Haare werden in freierem Spiele der Zufälligkeit behandelt; die Hügel<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [586/0094]
gendere Geſichtslinie, die ſtärkeren individuellen Abweichungen der Geſtalt
bei den Völkern, die der Grieche insgeſammt Barbaren genannt hätte,
werden ihm zuſagen. Im Profil z. B. haben wir die Bedeutung der
graden Linie erkannt, die von der Stirn zur Naſe führt. Dagegen zeigt
nun eine abſpringende Linie an, daß Geiſt und ſinnliches Leben zur Tren-
nung neigen, daß die Perſönlichkeit alſo einen Bruch in ſich trägt, daß
ſie alſo einen verwickelteren, tieferen Prozeß zu vollziehen hat, um zu leben,
um harmoniſch zu leben, und dieſen Ausdruck eben will die Malerei. So ar-
beitet denn, mag der Stoff ſo oder ſo beſchaffen ſein, auch die Stylgebung
überall nicht auf die verallgemeinernde Durchſchnitts-Linie, ſondern darauf,
daß das Allgemeine in die beſondern Formen der Lebensalter, Geſchlechter,
Zuſtände, Stände und in die Individualität ſcharf zuſammengefaßt erſcheine
und aus dem Bruche der Eigenheit um ſo concentrirter der Blitz des in-
nern Lebens herausſpringe. Die Runzel des Alters, die Erdfahlheit des
Siechthums, die Verkrümmung und Verwitterung durch einſeitige Arbeit mag
frei zur Darſtellung kommen wie die Grille der Naturbildung im Einzel-
nen: Stirne, Blick, Handlung prägt ihr den Accent des Geiſtes auf.
Wir nennen dieſe Auffaſſung und Behandlung im Allgemeinen die phy-
ſiognomiſche, d. h. die auf die kennzeichnende, bedeutungsvolle Schärfe
der Einzelzüge gerichtete (vergl. §. 338, wo das Phyſiognomiſche zuerſt
noch abgeſehen von den Zügen eingeführt iſt, welche die Arbeit des Wil-
lens der Geſtalt aufdrückt). Wie nun mit der Geſtalt, ſo verhält es ſich
auch mit den Cultur-Formen. Was zunächſt den Theil derſelben betrifft,
welcher die menſchliche Geſtalt günſtig oder ungünſtig entwickelt und auf-
zeigt, ſo wird freilich auch die Malerei ohne beſonderes Motiv, d. h. wo
ſie nicht furchtbar und mitleiderregend oder komiſch wirken will, auf
glückliche und geſunde Zuſtände in dieſem Gebiete nicht verzichten; doch
wird ſie ſchon darum weniger ſtrenge ſein, als die Sculptur, weil
ſie ihrem Weſen nach nicht die Vorliebe für das Nackte hat, wie die
Plaſtik. Wir werden hierauf zurückkommen; vorerſt iſt, was die Behand-
lung des Körpers im Allgemeinen betrifft, einleuchtend, daß die Malerei
gemäß ihrem naturaliſtiſchen Styl-Prinzip Muſkel, Sehnen, Adern weit
beſtimmter in das Einzelne ausdrückt, als die Plaſtik; ſcheint es, als ob
dadurch die empiriſchen Bedingungen des Lebens ſich zu ſcharf ausprägen,
ſo iſt es wieder der Strom und Lebenshauch, den die Farbe über alles
Einzelne hinzieht, wodurch alle Härten ſich in den idealen Rhythmus des
Ganzen auflöſen. Natürlich wirft nun der maleriſche Zweck das Haupt-
gewicht der äſthetiſchen Geltung auf die vorzüglich ſprechenden Theile,
Angeſicht und Hände; und an dieſen vorzüglich macht das Naturali-
ſiren und Individualiſiren, die phyſiognomiſche Auffaſſung ſich geltend.
Die Haare werden in freierem Spiele der Zufälligkeit behandelt; die Hügel
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