wird physiognomisch. Die schärfere Eigenheit und den härteren Bruch der Form, den dieser ächt malerische Standpunct voraussetzt, hat auch der plastische Styl, nur in gelinderer Weise, sich anzueignen. Das Bildniß und die Ge- schichte sind nun in weiter Ausdehnung eröffnet.
Es ist insbesondere der Inhalt dieses §., der, abgesehen von der speziel- leren Beziehung auf die Einzelheiten der Form, die er nun erhält, in der nothwendig ausführlicheren allgemeinen Darstellung des vielseitigen Wesens der Malerei mehrfach schon zur Sprache kommen mußte. Was zunächst die Thierwelt betrifft, so haben wir schon in und zu §. 654. 655 von der veränderten Behandlung gesprochen, welche sie durch den veränderten Standpunct erfahren muß. Es gilt, die Lebendigkeit des Ausdrucks der Thierseele durch eine Auffassung, die man eigentlich schon hier physiogno- misch nennen könnte, inniger und wärmer herauszuarbeiten. Die Form soll um so viel sprechender werden, als sie ungeregelter, zufälliger, eigen- sinniger sein mag. Hiemit erweitert sich, wie wir gesehen, der Umfang der darstellbaren Klassen, indem der Maler nicht mehr auf wenige schwung- voll compacte Formen der Thierwelt beschränkt ist, aber weder die in Linie und Form schöneren Bildungen, noch die dürftigeren, formlosen hat er zu stylisiren, wie der Bildhauer, ja er soll es nicht. Er wird also z. B. nicht das Fell, nicht die Federn in gewisse regelmäßige Gruppen ordnen, sondern das Freiere, Ungeordnetere, Struppige, Gesträubte u. s. w. mit leichter Hand wiedergeben; die Farbe kommt ja darüber und der dumpfe oder helle, freundliche oder grimmige Blick, die Bewegung, wie sie den augenblicklichen Affect ausdrückt, wird gerade durch dieses freier aufgedeckte Spiel der Aeußerlichkeiten um so wirkungsvoller. Auch das Individualisiren wird stärker, als in der Plastik; man mag einem einzel- nen Hund, Pferd ihr besonderes Temperament ansehen, aus ihrer Er- scheinung herauslesen, was sie Alles als treue Begleiter und Diener eines Herrn wohl miterlebt haben u. s. w.; doch tritt dieß erst bei den höhern Thiertypen ein vergl. §. 295, 1. -- Für das Gebiet der menschlichen Schönheit fällt uns nun nach dem, was insbesondere in und zu §. 654--657 entwickelt ist, das Wesentliche der stylistischen Behandlungsgrundsätze eben- falls reif in die Hand. Die Malerei ist demnach nicht mehr wählerisch in Beziehung auf den Stoff und nicht mehr streng in Rückführung em- pirischer auf reine Formen wie die Bildnerkunst. Gerade der normalste Typus, der altgriechische, wird ihrem Style Schwierigkeiten bereiten; schon in der allgemeinen Darstellung des Wesens unserer Kunst mußten wir hervorheben, daß sehr regelmäßiger Kopf und Gestalt ihrem salzigen, durch Gegensätzlichkeit des Aeußern und Innern gewürzten Wesen als fade und uninteressant widerstreben würde; gerade die bewegtere, sprin-
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 39
wird phyſiognomiſch. Die ſchärfere Eigenheit und den härteren Bruch der Form, den dieſer ächt maleriſche Standpunct vorausſetzt, hat auch der plaſtiſche Styl, nur in gelinderer Weiſe, ſich anzueignen. Das Bildniß und die Ge- ſchichte ſind nun in weiter Ausdehnung eröffnet.
Es iſt insbeſondere der Inhalt dieſes §., der, abgeſehen von der ſpeziel- leren Beziehung auf die Einzelheiten der Form, die er nun erhält, in der nothwendig ausführlicheren allgemeinen Darſtellung des vielſeitigen Weſens der Malerei mehrfach ſchon zur Sprache kommen mußte. Was zunächſt die Thierwelt betrifft, ſo haben wir ſchon in und zu §. 654. 655 von der veränderten Behandlung geſprochen, welche ſie durch den veränderten Standpunct erfahren muß. Es gilt, die Lebendigkeit des Ausdrucks der Thierſeele durch eine Auffaſſung, die man eigentlich ſchon hier phyſiogno- miſch nennen könnte, inniger und wärmer herauszuarbeiten. Die Form ſoll um ſo viel ſprechender werden, als ſie ungeregelter, zufälliger, eigen- ſinniger ſein mag. Hiemit erweitert ſich, wie wir geſehen, der Umfang der darſtellbaren Klaſſen, indem der Maler nicht mehr auf wenige ſchwung- voll compacte Formen der Thierwelt beſchränkt iſt, aber weder die in Linie und Form ſchöneren Bildungen, noch die dürftigeren, formloſen hat er zu ſtyliſiren, wie der Bildhauer, ja er ſoll es nicht. Er wird alſo z. B. nicht das Fell, nicht die Federn in gewiſſe regelmäßige Gruppen ordnen, ſondern das Freiere, Ungeordnetere, Struppige, Geſträubte u. ſ. w. mit leichter Hand wiedergeben; die Farbe kommt ja darüber und der dumpfe oder helle, freundliche oder grimmige Blick, die Bewegung, wie ſie den augenblicklichen Affect ausdrückt, wird gerade durch dieſes freier aufgedeckte Spiel der Aeußerlichkeiten um ſo wirkungsvoller. Auch das Individualiſiren wird ſtärker, als in der Plaſtik; man mag einem einzel- nen Hund, Pferd ihr beſonderes Temperament anſehen, aus ihrer Er- ſcheinung herausleſen, was ſie Alles als treue Begleiter und Diener eines Herrn wohl miterlebt haben u. ſ. w.; doch tritt dieß erſt bei den höhern Thiertypen ein vergl. §. 295, 1. — Für das Gebiet der menſchlichen Schönheit fällt uns nun nach dem, was insbeſondere in und zu §. 654—657 entwickelt iſt, das Weſentliche der ſtyliſtiſchen Behandlungsgrundſätze eben- falls reif in die Hand. Die Malerei iſt demnach nicht mehr wähleriſch in Beziehung auf den Stoff und nicht mehr ſtreng in Rückführung em- piriſcher auf reine Formen wie die Bildnerkunſt. Gerade der normalſte Typus, der altgriechiſche, wird ihrem Style Schwierigkeiten bereiten; ſchon in der allgemeinen Darſtellung des Weſens unſerer Kunſt mußten wir hervorheben, daß ſehr regelmäßiger Kopf und Geſtalt ihrem ſalzigen, durch Gegenſätzlichkeit des Aeußern und Innern gewürzten Weſen als fade und unintereſſant widerſtreben würde; gerade die bewegtere, ſprin-
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 39
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wird phyſiognomiſch. Die ſchärfere Eigenheit und den härteren Bruch der
Form, den dieſer ächt maleriſche Standpunct vorausſetzt, hat auch der plaſtiſche
Styl, nur in gelinderer Weiſe, ſich anzueignen. Das Bildniß und die Ge-
ſchichte ſind nun in weiter Ausdehnung eröffnet.
Es iſt insbeſondere der Inhalt dieſes §., der, abgeſehen von der ſpeziel-
leren Beziehung auf die Einzelheiten der Form, die er nun erhält, in der
nothwendig ausführlicheren allgemeinen Darſtellung des vielſeitigen Weſens
der Malerei mehrfach ſchon zur Sprache kommen mußte. Was zunächſt die
Thierwelt betrifft, ſo haben wir ſchon in und zu §. 654. 655 von der
veränderten Behandlung geſprochen, welche ſie durch den veränderten
Standpunct erfahren muß. Es gilt, die Lebendigkeit des Ausdrucks der
Thierſeele durch eine Auffaſſung, die man eigentlich ſchon hier phyſiogno-
miſch nennen könnte, inniger und wärmer herauszuarbeiten. Die Form
ſoll um ſo viel ſprechender werden, als ſie ungeregelter, zufälliger, eigen-
ſinniger ſein mag. Hiemit erweitert ſich, wie wir geſehen, der Umfang
der darſtellbaren Klaſſen, indem der Maler nicht mehr auf wenige ſchwung-
voll compacte Formen der Thierwelt beſchränkt iſt, aber weder die in
Linie und Form ſchöneren Bildungen, noch die dürftigeren, formloſen hat
er zu ſtyliſiren, wie der Bildhauer, ja er ſoll es nicht. Er wird alſo
z. B. nicht das Fell, nicht die Federn in gewiſſe regelmäßige Gruppen
ordnen, ſondern das Freiere, Ungeordnetere, Struppige, Geſträubte u. ſ. w.
mit leichter Hand wiedergeben; die Farbe kommt ja darüber und der
dumpfe oder helle, freundliche oder grimmige Blick, die Bewegung, wie
ſie den augenblicklichen Affect ausdrückt, wird gerade durch dieſes freier
aufgedeckte Spiel der Aeußerlichkeiten um ſo wirkungsvoller. Auch das
Individualiſiren wird ſtärker, als in der Plaſtik; man mag einem einzel-
nen Hund, Pferd ihr beſonderes Temperament anſehen, aus ihrer Er-
ſcheinung herausleſen, was ſie Alles als treue Begleiter und Diener eines
Herrn wohl miterlebt haben u. ſ. w.; doch tritt dieß erſt bei den höhern
Thiertypen ein vergl. §. 295, 1. — Für das Gebiet der menſchlichen
Schönheit fällt uns nun nach dem, was insbeſondere in und zu §. 654—657
entwickelt iſt, das Weſentliche der ſtyliſtiſchen Behandlungsgrundſätze eben-
falls reif in die Hand. Die Malerei iſt demnach nicht mehr wähleriſch
in Beziehung auf den Stoff und nicht mehr ſtreng in Rückführung em-
piriſcher auf reine Formen wie die Bildnerkunſt. Gerade der normalſte
Typus, der altgriechiſche, wird ihrem Style Schwierigkeiten bereiten;
ſchon in der allgemeinen Darſtellung des Weſens unſerer Kunſt mußten
wir hervorheben, daß ſehr regelmäßiger Kopf und Geſtalt ihrem ſalzigen,
durch Gegenſätzlichkeit des Aeußern und Innern gewürzten Weſen als
fade und unintereſſant widerſtreben würde; gerade die bewegtere, ſprin-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/93>, abgerufen am 05.07.2024.
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