zum Ringen auf. Eine ungefähre Grenze wird aber zu ziehen, inner- halb derselben ein Ungünstigeres und weniger Ungünstiges zu unterschei- den sein. Die Grenze ist die moderne Tracht, weil sie ein falsches Bild des menschlichen Körpers gibt, vergl. §. 376, 2.; sie ist mindestens ein Aeußerstes, Ungünstigstes. Jedermann kennt die Noth des Bildhauers, die langen Hosen, welche der Form des Beins folgen, aber an Knie und Knöchel die wahre Linie durch Falten verwirren, die nur vom Schneider herrühren, den Rock oder Frack, der bis an die Hüften dem Körper anliegt, aber schon am Aermel falsche Falten wirft, wie die Hosen, von der Hüfte an aber in reinen Schneiderfalten oder gar abstracten Schwänzen niederhängt, durch Mantel, Talar und dergl. zu verdecken. Man denke sich z. B. jenen sausenden Flug des Gewandes, wo er eine vorangegangene Bewegung anzeigt, auf den Frack angewandt! Dagegen lassen sich durch die Welt von Formen, welche zwischen diesem Aeußersten und der antiken Tracht liegen, zwei Linien verfolgen, welche in verschie- dener Weise plastisch Brauchbares aufzeigen. Nachdem die langen, fließen- den Gewänder des früheren Mittelalters, welche, ob zwar von oben mehr nach dem Leibe geschnitten und genäht, doch noch ihre Herkunft von der classischen Kleidung verrathen und dem Bildner daher höchst willkommen sind, verschwunden waren und nur als Kleid des Festes und der höheren Würde (Talar, Kirchenrock) im Gebrauch blieben, sehen wir das anlie- gende Wams, mit ebenfalls knappem Beinkleid verbunden, sich geltend machen; dieses trennt sich später in Hose und Strumpf, wird eine Zeit- lang weite Pluderhose, dann, wie das Wams, das ebenfalls eine Zeitlang sehr weit getragen wird, wieder eng. Zu dieser Tracht gesellt sich ein wei- ter oder fast freier Ueberwurf, Tappert, Schaube, dann spanischer Mantel, dann wieder kurzer, weiter Rock ohne Taille. Diese ganze Form ist in ihrem anschließenden Theile nicht unplastisch, weil sie nicht störend von den natürlichen Umrissen abgeht; dazu gibt der Ueberwurf, nämlich der Rock ohne Taille, der spanische Mantel den Gegensatz des Freien, Luftigen, Reichen; sehr weites, kurzes Beinkleid und sehr weites Wams aber ist ebenfalls viel brauchbarer, als unsere halbweiten Säcke. Selbst der in die Taille gehende Rock und der Frack der Zopfzeit ist noch so weitschichtig, aus- giebig, daß das Gefälte mehr nach den Stellen motivirt werden kann, wo er auf die ausgeladenere Form des Körpers aufsitzt oder in die eingezogenere einfällt: die Rokoko-Tracht ist auch bildnerisch noch weit günstiger, als die neueste. Die andere Hauptform ist die hartschaalige, mehr architek- tonische: das weite, harte Haus der Rüstung, dann der Steifstiefel mit Küraß; Rock und selbst Frack, militärisch dick gefüttert, wie sie es bei dieser schweren Bewaffnung waren, haben auch solchen hausartigen Charak- ter. Diese ganze Form ist nicht so unplastisch, als sie scheint: die eckig
zum Ringen auf. Eine ungefähre Grenze wird aber zu ziehen, inner- halb derſelben ein Ungünſtigeres und weniger Ungünſtiges zu unterſchei- den ſein. Die Grenze iſt die moderne Tracht, weil ſie ein falſches Bild des menſchlichen Körpers gibt, vergl. §. 376, 2.; ſie iſt mindeſtens ein Aeußerſtes, Ungünſtigſtes. Jedermann kennt die Noth des Bildhauers, die langen Hoſen, welche der Form des Beins folgen, aber an Knie und Knöchel die wahre Linie durch Falten verwirren, die nur vom Schneider herrühren, den Rock oder Frack, der bis an die Hüften dem Körper anliegt, aber ſchon am Aermel falſche Falten wirft, wie die Hoſen, von der Hüfte an aber in reinen Schneiderfalten oder gar abſtracten Schwänzen niederhängt, durch Mantel, Talar und dergl. zu verdecken. Man denke ſich z. B. jenen ſauſenden Flug des Gewandes, wo er eine vorangegangene Bewegung anzeigt, auf den Frack angewandt! Dagegen laſſen ſich durch die Welt von Formen, welche zwiſchen dieſem Aeußerſten und der antiken Tracht liegen, zwei Linien verfolgen, welche in verſchie- dener Weiſe plaſtiſch Brauchbares aufzeigen. Nachdem die langen, fließen- den Gewänder des früheren Mittelalters, welche, ob zwar von oben mehr nach dem Leibe geſchnitten und genäht, doch noch ihre Herkunft von der claſſiſchen Kleidung verrathen und dem Bildner daher höchſt willkommen ſind, verſchwunden waren und nur als Kleid des Feſtes und der höheren Würde (Talar, Kirchenrock) im Gebrauch blieben, ſehen wir das anlie- gende Wams, mit ebenfalls knappem Beinkleid verbunden, ſich geltend machen; dieſes trennt ſich ſpäter in Hoſe und Strumpf, wird eine Zeit- lang weite Pluderhoſe, dann, wie das Wams, das ebenfalls eine Zeitlang ſehr weit getragen wird, wieder eng. Zu dieſer Tracht geſellt ſich ein wei- ter oder faſt freier Ueberwurf, Tappert, Schaube, dann ſpaniſcher Mantel, dann wieder kurzer, weiter Rock ohne Taille. Dieſe ganze Form iſt in ihrem anſchließenden Theile nicht unplaſtiſch, weil ſie nicht ſtörend von den natürlichen Umriſſen abgeht; dazu gibt der Ueberwurf, nämlich der Rock ohne Taille, der ſpaniſche Mantel den Gegenſatz des Freien, Luftigen, Reichen; ſehr weites, kurzes Beinkleid und ſehr weites Wams aber iſt ebenfalls viel brauchbarer, als unſere halbweiten Säcke. Selbſt der in die Taille gehende Rock und der Frack der Zopfzeit iſt noch ſo weitſchichtig, aus- giebig, daß das Gefälte mehr nach den Stellen motivirt werden kann, wo er auf die ausgeladenere Form des Körpers aufſitzt oder in die eingezogenere einfällt: die Rokoko-Tracht iſt auch bildneriſch noch weit günſtiger, als die neueſte. Die andere Hauptform iſt die hartſchaalige, mehr architek- toniſche: das weite, harte Haus der Rüſtung, dann der Steifſtiefel mit Küraß; Rock und ſelbſt Frack, militäriſch dick gefüttert, wie ſie es bei dieſer ſchweren Bewaffnung waren, haben auch ſolchen hausartigen Charak- ter. Dieſe ganze Form iſt nicht ſo unplaſtiſch, als ſie ſcheint: die eckig
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zum Ringen auf. Eine ungefähre Grenze wird aber zu ziehen, inner-
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den ſein. Die Grenze iſt die moderne Tracht, weil ſie ein falſches Bild
des menſchlichen Körpers gibt, vergl. §. 376, 2.; ſie iſt mindeſtens ein
Aeußerſtes, Ungünſtigſtes. Jedermann kennt die Noth des Bildhauers,
die langen Hoſen, welche der Form des Beins folgen, aber an Knie
und Knöchel die wahre Linie durch Falten verwirren, die nur vom
Schneider herrühren, den Rock oder Frack, der bis an die Hüften dem
Körper anliegt, aber ſchon am Aermel falſche Falten wirft, wie die Hoſen,
von der Hüfte an aber in reinen Schneiderfalten oder gar abſtracten
Schwänzen niederhängt, durch Mantel, Talar und dergl. zu verdecken.
Man denke ſich z. B. jenen ſauſenden Flug des Gewandes, wo er eine
vorangegangene Bewegung anzeigt, auf den Frack angewandt! Dagegen
laſſen ſich durch die Welt von Formen, welche zwiſchen dieſem Aeußerſten
und der antiken Tracht liegen, zwei Linien verfolgen, welche in verſchie-
dener Weiſe plaſtiſch Brauchbares aufzeigen. Nachdem die langen, fließen-
den Gewänder des früheren Mittelalters, welche, ob zwar von oben mehr
nach dem Leibe geſchnitten und genäht, doch noch ihre Herkunft von der
claſſiſchen Kleidung verrathen und dem Bildner daher höchſt willkommen
ſind, verſchwunden waren und nur als Kleid des Feſtes und der höheren
Würde (Talar, Kirchenrock) im Gebrauch blieben, ſehen wir das anlie-
gende Wams, mit ebenfalls knappem Beinkleid verbunden, ſich geltend
machen; dieſes trennt ſich ſpäter in Hoſe und Strumpf, wird eine Zeit-
lang weite Pluderhoſe, dann, wie das Wams, das ebenfalls eine Zeitlang
ſehr weit getragen wird, wieder eng. Zu dieſer Tracht geſellt ſich ein wei-
ter oder faſt freier Ueberwurf, Tappert, Schaube, dann ſpaniſcher Mantel,
dann wieder kurzer, weiter Rock ohne Taille. Dieſe ganze Form iſt in
ihrem anſchließenden Theile nicht unplaſtiſch, weil ſie nicht ſtörend von den
natürlichen Umriſſen abgeht; dazu gibt der Ueberwurf, nämlich der Rock
ohne Taille, der ſpaniſche Mantel den Gegenſatz des Freien, Luftigen,
Reichen; ſehr weites, kurzes Beinkleid und ſehr weites Wams aber iſt
ebenfalls viel brauchbarer, als unſere halbweiten Säcke. Selbſt der in die
Taille gehende Rock und der Frack der Zopfzeit iſt noch ſo weitſchichtig, aus-
giebig, daß das Gefälte mehr nach den Stellen motivirt werden kann, wo er
auf die ausgeladenere Form des Körpers aufſitzt oder in die eingezogenere
einfällt: die Rokoko-Tracht iſt auch bildneriſch noch weit günſtiger, als
die neueſte. Die andere Hauptform iſt die hartſchaalige, mehr architek-
toniſche: das weite, harte Haus der Rüſtung, dann der Steifſtiefel mit
Küraß; Rock und ſelbſt Frack, militäriſch dick gefüttert, wie ſie es bei
dieſer ſchweren Bewaffnung waren, haben auch ſolchen hausartigen Charak-
ter. Dieſe ganze Form iſt nicht ſo unplaſtiſch, als ſie ſcheint: die eckig
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/98>, abgerufen am 07.07.2024.
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