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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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in die Malerei (vergl. §. 612 u. Feuerbach a. a. O. S. 198) stärker,
als irgendwo sich hervordrängt. -- Diese ästhetische Wirkung des Ge-
wands liegt nun natürlich nicht im Stoffe allein; die günstigste Tracht
verfällt hundert störenden Zufällen, ist in ihren Formen und Falten nie
so flüssig und bestimmt, wie es der Künstler bedarf, und es handelt sich
also auch hier wesentlich vom stylistischen Verfahren. Dasselbe hat dem
bisher durchgängig angewandten Gesetze der Vereinigung des flüssig Freien
mit dem streng Getheilten und Gesammelten zu folgen und besonders
wird die Behandlung der des Haares verwandt sein; charakterlos geknit-
tertes Gefälte ist auszuscheiden, volle Faltenzüge sind in Gruppen zu
ordnen, höher zu wölben, tiefer zu unterhöhlen, glattes Aufliegen ist
in reinerer Füllung, abfliegender Schwung belebter, bewegter, fortgesetz-
ter darzustellen. An den schönsten Gewandfiguren der Alten bildet die
Draperie ein wohl componirtes Ganzes wie ein Gedicht: Hauptmassen,
untergeordnete Falten von schwereren Faltenzügen beherrscht, Gruppen in
Gruppen, dazwischen freies Aushauchen im Faltenlosen.

2. Für rein ideale Gestalten ist die absulute Gewandung, wie sie
das classische Alterthum geschaffen, jederzeit ebenso unentbehrlich wie das
griechische Profil; wäre sie aber die einzige, so wäre dadurch den neueren
Völkern, die vorzüglich auf das, obwohl beschränkte, Gebiet individuell
historischer Darstellungen gewiesen sind, fast aller Boden weggezogen.
Es mögen auch individuelle Gestalten, so wie genreartige, unter Um-
ständen im Widerspruche mit der Tracht, die sie wirklich getragen, im
classischen Gewand erscheinen, wofern sie aus den realen Bedingungen
ihrer Zeit heraus in den Aether des Reinen und Allgemeinen sich erhoben,
darin gelebt und gewebt und sich verewigt haben, wie z. B. große Dichter;
denn dieses Gewand hat beinahe aufgehört, das einer bestimmten Zeit zu
sein, es ist ebensosehr ein reiner Typus, allgemein menschlich, ideal ge-
worden, als es historisch ist, und wen wir "classisch" nennen, der mag es
im Monumente tragen. Dagegen alle realeren Naturen, Staatsmänner,
Feldherren, auch geistige, aber dem strengeren Denken zugewandte, wie
Philosophen, Kritiker, Erfinder, oder solche, die für ihre Gedankenwelt
kühn gehandelt, wie Reformatoren, unverdrossen gewirkt, wie berühmte
Lehrer, selbst Dichter, Künstler, wenn sie lebenswärmer, vertrauter auf-
gefaßt werden sollen, müssen das Kleid tragen, in welchem sie sich wahr-
heitsgemäß bewegt haben. In der That ist die Bildnerkunst ein lebens-
wärmeres Wesen, als die Schullehre des Idealismus zugeben will,
und der Künstler mag auch hier frisch zugreifen, wenn er nur seine
Grenzen kennt. Es verhält sich mit den barbarischen Trachten wie mit
dem barbarischen Profil: was dem Stylgesetz in seiner höchsten Strenge
nicht entspricht, fällt darum noch nicht weg, sondern fordert den Bildner

in die Malerei (vergl. §. 612 u. Feuerbach a. a. O. S. 198) ſtärker,
als irgendwo ſich hervordrängt. — Dieſe äſthetiſche Wirkung des Ge-
wands liegt nun natürlich nicht im Stoffe allein; die günſtigſte Tracht
verfällt hundert ſtörenden Zufällen, iſt in ihren Formen und Falten nie
ſo flüſſig und beſtimmt, wie es der Künſtler bedarf, und es handelt ſich
alſo auch hier weſentlich vom ſtyliſtiſchen Verfahren. Daſſelbe hat dem
bisher durchgängig angewandten Geſetze der Vereinigung des flüſſig Freien
mit dem ſtreng Getheilten und Geſammelten zu folgen und beſonders
wird die Behandlung der des Haares verwandt ſein; charakterlos geknit-
tertes Gefälte iſt auszuſcheiden, volle Faltenzüge ſind in Gruppen zu
ordnen, höher zu wölben, tiefer zu unterhöhlen, glattes Aufliegen iſt
in reinerer Füllung, abfliegender Schwung belebter, bewegter, fortgeſetz-
ter darzuſtellen. An den ſchönſten Gewandfiguren der Alten bildet die
Draperie ein wohl componirtes Ganzes wie ein Gedicht: Hauptmaſſen,
untergeordnete Falten von ſchwereren Faltenzügen beherrſcht, Gruppen in
Gruppen, dazwiſchen freies Aushauchen im Faltenloſen.

2. Für rein ideale Geſtalten iſt die abſulute Gewandung, wie ſie
das claſſiſche Alterthum geſchaffen, jederzeit ebenſo unentbehrlich wie das
griechiſche Profil; wäre ſie aber die einzige, ſo wäre dadurch den neueren
Völkern, die vorzüglich auf das, obwohl beſchränkte, Gebiet individuell
hiſtoriſcher Darſtellungen gewieſen ſind, faſt aller Boden weggezogen.
Es mögen auch individuelle Geſtalten, ſo wie genreartige, unter Um-
ſtänden im Widerſpruche mit der Tracht, die ſie wirklich getragen, im
claſſiſchen Gewand erſcheinen, wofern ſie aus den realen Bedingungen
ihrer Zeit heraus in den Aether des Reinen und Allgemeinen ſich erhoben,
darin gelebt und gewebt und ſich verewigt haben, wie z. B. große Dichter;
denn dieſes Gewand hat beinahe aufgehört, das einer beſtimmten Zeit zu
ſein, es iſt ebenſoſehr ein reiner Typus, allgemein menſchlich, ideal ge-
worden, als es hiſtoriſch iſt, und wen wir „claſſiſch“ nennen, der mag es
im Monumente tragen. Dagegen alle realeren Naturen, Staatsmänner,
Feldherren, auch geiſtige, aber dem ſtrengeren Denken zugewandte, wie
Philoſophen, Kritiker, Erfinder, oder ſolche, die für ihre Gedankenwelt
kühn gehandelt, wie Reformatoren, unverdroſſen gewirkt, wie berühmte
Lehrer, ſelbſt Dichter, Künſtler, wenn ſie lebenswärmer, vertrauter auf-
gefaßt werden ſollen, müſſen das Kleid tragen, in welchem ſie ſich wahr-
heitsgemäß bewegt haben. In der That iſt die Bildnerkunſt ein lebens-
wärmeres Weſen, als die Schullehre des Idealiſmus zugeben will,
und der Künſtler mag auch hier friſch zugreifen, wenn er nur ſeine
Grenzen kennt. Es verhält ſich mit den barbariſchen Trachten wie mit
dem barbariſchen Profil: was dem Stylgeſetz in ſeiner höchſten Strenge
nicht entſpricht, fällt darum noch nicht weg, ſondern fordert den Bildner

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[423/0097] in die Malerei (vergl. §. 612 u. Feuerbach a. a. O. S. 198) ſtärker, als irgendwo ſich hervordrängt. — Dieſe äſthetiſche Wirkung des Ge- wands liegt nun natürlich nicht im Stoffe allein; die günſtigſte Tracht verfällt hundert ſtörenden Zufällen, iſt in ihren Formen und Falten nie ſo flüſſig und beſtimmt, wie es der Künſtler bedarf, und es handelt ſich alſo auch hier weſentlich vom ſtyliſtiſchen Verfahren. Daſſelbe hat dem bisher durchgängig angewandten Geſetze der Vereinigung des flüſſig Freien mit dem ſtreng Getheilten und Geſammelten zu folgen und beſonders wird die Behandlung der des Haares verwandt ſein; charakterlos geknit- tertes Gefälte iſt auszuſcheiden, volle Faltenzüge ſind in Gruppen zu ordnen, höher zu wölben, tiefer zu unterhöhlen, glattes Aufliegen iſt in reinerer Füllung, abfliegender Schwung belebter, bewegter, fortgeſetz- ter darzuſtellen. An den ſchönſten Gewandfiguren der Alten bildet die Draperie ein wohl componirtes Ganzes wie ein Gedicht: Hauptmaſſen, untergeordnete Falten von ſchwereren Faltenzügen beherrſcht, Gruppen in Gruppen, dazwiſchen freies Aushauchen im Faltenloſen. 2. Für rein ideale Geſtalten iſt die abſulute Gewandung, wie ſie das claſſiſche Alterthum geſchaffen, jederzeit ebenſo unentbehrlich wie das griechiſche Profil; wäre ſie aber die einzige, ſo wäre dadurch den neueren Völkern, die vorzüglich auf das, obwohl beſchränkte, Gebiet individuell hiſtoriſcher Darſtellungen gewieſen ſind, faſt aller Boden weggezogen. Es mögen auch individuelle Geſtalten, ſo wie genreartige, unter Um- ſtänden im Widerſpruche mit der Tracht, die ſie wirklich getragen, im claſſiſchen Gewand erſcheinen, wofern ſie aus den realen Bedingungen ihrer Zeit heraus in den Aether des Reinen und Allgemeinen ſich erhoben, darin gelebt und gewebt und ſich verewigt haben, wie z. B. große Dichter; denn dieſes Gewand hat beinahe aufgehört, das einer beſtimmten Zeit zu ſein, es iſt ebenſoſehr ein reiner Typus, allgemein menſchlich, ideal ge- worden, als es hiſtoriſch iſt, und wen wir „claſſiſch“ nennen, der mag es im Monumente tragen. Dagegen alle realeren Naturen, Staatsmänner, Feldherren, auch geiſtige, aber dem ſtrengeren Denken zugewandte, wie Philoſophen, Kritiker, Erfinder, oder ſolche, die für ihre Gedankenwelt kühn gehandelt, wie Reformatoren, unverdroſſen gewirkt, wie berühmte Lehrer, ſelbſt Dichter, Künſtler, wenn ſie lebenswärmer, vertrauter auf- gefaßt werden ſollen, müſſen das Kleid tragen, in welchem ſie ſich wahr- heitsgemäß bewegt haben. In der That iſt die Bildnerkunſt ein lebens- wärmeres Weſen, als die Schullehre des Idealiſmus zugeben will, und der Künſtler mag auch hier friſch zugreifen, wenn er nur ſeine Grenzen kennt. Es verhält ſich mit den barbariſchen Trachten wie mit dem barbariſchen Profil: was dem Stylgeſetz in ſeiner höchſten Strenge nicht entſpricht, fällt darum noch nicht weg, ſondern fordert den Bildner

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/97>, abgerufen am 24.11.2024.