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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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lichen Gemüthslebens und sprudelt mit oder ohne Satyre den tollsten
Humor aus, der namentlich auch die Thiergestalt, für deren normale For-
men dem Mittelalter in interessantem Gegensatz gegen das ganze Alter-
thum der Sinn abgeht, zu phantastischen, meist symbolischen Gebilden
verzerrt. Jene empirisch geschichtliche Vielheit, Hereinziehung der ganzen
Geschichte A. und N. Testaments, Reichthum der Legende, Anknüpfung
der profanen Historie an die heilige, figurenreiche bewegte Handlung,
das Mitdarstellen der ganzen Umgebung (§. 642) dringt jetzt erst ein und
sprengt das vorher noch geschlossenere, in Gestalten sparsamere Ideal
auseinander. Das Mitdarstellen des Hintergrunds, der Umgebung fin-
det natürlich im Relief statt und die unberechtigt malerische, perspectivi-
sche Behandlung desselben ist jener in der Anm. zu §. 643 erwähnte
Punct, worin auch die Italiener ganz über das Plastische hinausgehen;
das Relief überspringt denn seine Grenzen bis zur völligen Nachahmung
von Räumen, wo man in ein bewohntes Inneres hineinsieht. Vor Allem
nun ist zur gerechten Würdigung dieses Styls geltend zu machen, was
wir ebenfalls zu §. 415, 2. vorbereitend schon aufgestellt haban: rauhe,
harte, eigensinnig individuelle Formen können noch plastisch sein, wenn
sie Gewaltigkeit, wenn sie die Gediegenheit des Mächtigen und Großen
tragen. Das Mittelalter bewahrt, auch in Deutschland, aus den Zeiten
heidnischer Naturkraft immer noch einen Zug vollwiegender, in sich un-
getheilter, ungebrochener Menschheit, der selbst die Härte barbarischer
Form plastisch adelt; man sehe nur z. B. die Großheit des Styls in
mehreren von Ad. Krafts Stationen zu Nürnberg oder den Kopf Christi
am Oelberge vor der S. Leonhardskirche in Stuttgart. Was durch diese
Großheit nicht entschuldigt ist -- und es ist wahr, daß sie weder da,
wo sie ist, mit allen Härten versöhnt, noch überhaupt allgemein hervor-
tritt, sondern das deutsche Wesen auch hier neben dem Großen ungeschickt
wahllos nach dem ganz Platten greift -- das wird gedeckt zunächst durch
die Beziehung zur Baukunst. Ihrem Zuge folgt diese Bildhauerei viel
unselbständiger, als im Alterthum: von der selbständigeren Aufstellung an
den Facaden, in den Vorhallen zieht sie sich mehr und mehr in die Hohl-
kehlen der Portale, wo die Statuen von der Architektur sogar in schiefe
Aufstellung gedrängt werden, unter Baldachine, in Tabernakel an und
auf Strebepfeilern, Tragpfeilern, zwischen das Ornament der Chorstühle,
Sacramentshäuschen, Lettner zurück und geht so im Zuge der architekto-
nischen Bewegung als eine Art vollerer Sprache des Ornaments auf.
Vom Altare vorher von der Malerei verdrängt nimmt sie als Schnitz-
werk einen Theil desselben wieder ein und liebt hier wie am Chorgestühl
und andern geschützten Stellen das weichere Holz, womit der herrschende
ornamentistische Charakter noch bestimmter ausgesprochen ist. In dieser

lichen Gemüthslebens und ſprudelt mit oder ohne Satyre den tollſten
Humor aus, der namentlich auch die Thiergeſtalt, für deren normale For-
men dem Mittelalter in intereſſantem Gegenſatz gegen das ganze Alter-
thum der Sinn abgeht, zu phantaſtiſchen, meiſt ſymboliſchen Gebilden
verzerrt. Jene empiriſch geſchichtliche Vielheit, Hereinziehung der ganzen
Geſchichte A. und N. Teſtaments, Reichthum der Legende, Anknüpfung
der profanen Hiſtorie an die heilige, figurenreiche bewegte Handlung,
das Mitdarſtellen der ganzen Umgebung (§. 642) dringt jetzt erſt ein und
ſprengt das vorher noch geſchloſſenere, in Geſtalten ſparſamere Ideal
auseinander. Das Mitdarſtellen des Hintergrunds, der Umgebung fin-
det natürlich im Relief ſtatt und die unberechtigt maleriſche, perſpectivi-
ſche Behandlung deſſelben iſt jener in der Anm. zu §. 643 erwähnte
Punct, worin auch die Italiener ganz über das Plaſtiſche hinausgehen;
das Relief überſpringt denn ſeine Grenzen bis zur völligen Nachahmung
von Räumen, wo man in ein bewohntes Inneres hineinſieht. Vor Allem
nun iſt zur gerechten Würdigung dieſes Styls geltend zu machen, was
wir ebenfalls zu §. 415, 2. vorbereitend ſchon aufgeſtellt haban: rauhe,
harte, eigenſinnig individuelle Formen können noch plaſtiſch ſein, wenn
ſie Gewaltigkeit, wenn ſie die Gediegenheit des Mächtigen und Großen
tragen. Das Mittelalter bewahrt, auch in Deutſchland, aus den Zeiten
heidniſcher Naturkraft immer noch einen Zug vollwiegender, in ſich un-
getheilter, ungebrochener Menſchheit, der ſelbſt die Härte barbariſcher
Form plaſtiſch adelt; man ſehe nur z. B. die Großheit des Styls in
mehreren von Ad. Krafts Stationen zu Nürnberg oder den Kopf Chriſti
am Oelberge vor der S. Leonhardskirche in Stuttgart. Was durch dieſe
Großheit nicht entſchuldigt iſt — und es iſt wahr, daß ſie weder da,
wo ſie iſt, mit allen Härten verſöhnt, noch überhaupt allgemein hervor-
tritt, ſondern das deutſche Weſen auch hier neben dem Großen ungeſchickt
wahllos nach dem ganz Platten greift — das wird gedeckt zunächſt durch
die Beziehung zur Baukunſt. Ihrem Zuge folgt dieſe Bildhauerei viel
unſelbſtändiger, als im Alterthum: von der ſelbſtändigeren Aufſtellung an
den Façaden, in den Vorhallen zieht ſie ſich mehr und mehr in die Hohl-
kehlen der Portale, wo die Statuen von der Architektur ſogar in ſchiefe
Aufſtellung gedrängt werden, unter Baldachine, in Tabernakel an und
auf Strebepfeilern, Tragpfeilern, zwiſchen das Ornament der Chorſtühle,
Sacramentshäuschen, Lettner zurück und geht ſo im Zuge der architekto-
niſchen Bewegung als eine Art vollerer Sprache des Ornaments auf.
Vom Altare vorher von der Malerei verdrängt nimmt ſie als Schnitz-
werk einen Theil deſſelben wieder ein und liebt hier wie am Chorgeſtühl
und andern geſchützten Stellen das weichere Holz, womit der herrſchende
ornamentiſtiſche Charakter noch beſtimmter ausgeſprochen iſt. In dieſer

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[489/0163] lichen Gemüthslebens und ſprudelt mit oder ohne Satyre den tollſten Humor aus, der namentlich auch die Thiergeſtalt, für deren normale For- men dem Mittelalter in intereſſantem Gegenſatz gegen das ganze Alter- thum der Sinn abgeht, zu phantaſtiſchen, meiſt ſymboliſchen Gebilden verzerrt. Jene empiriſch geſchichtliche Vielheit, Hereinziehung der ganzen Geſchichte A. und N. Teſtaments, Reichthum der Legende, Anknüpfung der profanen Hiſtorie an die heilige, figurenreiche bewegte Handlung, das Mitdarſtellen der ganzen Umgebung (§. 642) dringt jetzt erſt ein und ſprengt das vorher noch geſchloſſenere, in Geſtalten ſparſamere Ideal auseinander. Das Mitdarſtellen des Hintergrunds, der Umgebung fin- det natürlich im Relief ſtatt und die unberechtigt maleriſche, perſpectivi- ſche Behandlung deſſelben iſt jener in der Anm. zu §. 643 erwähnte Punct, worin auch die Italiener ganz über das Plaſtiſche hinausgehen; das Relief überſpringt denn ſeine Grenzen bis zur völligen Nachahmung von Räumen, wo man in ein bewohntes Inneres hineinſieht. Vor Allem nun iſt zur gerechten Würdigung dieſes Styls geltend zu machen, was wir ebenfalls zu §. 415, 2. vorbereitend ſchon aufgeſtellt haban: rauhe, harte, eigenſinnig individuelle Formen können noch plaſtiſch ſein, wenn ſie Gewaltigkeit, wenn ſie die Gediegenheit des Mächtigen und Großen tragen. Das Mittelalter bewahrt, auch in Deutſchland, aus den Zeiten heidniſcher Naturkraft immer noch einen Zug vollwiegender, in ſich un- getheilter, ungebrochener Menſchheit, der ſelbſt die Härte barbariſcher Form plaſtiſch adelt; man ſehe nur z. B. die Großheit des Styls in mehreren von Ad. Krafts Stationen zu Nürnberg oder den Kopf Chriſti am Oelberge vor der S. Leonhardskirche in Stuttgart. Was durch dieſe Großheit nicht entſchuldigt iſt — und es iſt wahr, daß ſie weder da, wo ſie iſt, mit allen Härten verſöhnt, noch überhaupt allgemein hervor- tritt, ſondern das deutſche Weſen auch hier neben dem Großen ungeſchickt wahllos nach dem ganz Platten greift — das wird gedeckt zunächſt durch die Beziehung zur Baukunſt. Ihrem Zuge folgt dieſe Bildhauerei viel unſelbſtändiger, als im Alterthum: von der ſelbſtändigeren Aufſtellung an den Façaden, in den Vorhallen zieht ſie ſich mehr und mehr in die Hohl- kehlen der Portale, wo die Statuen von der Architektur ſogar in ſchiefe Aufſtellung gedrängt werden, unter Baldachine, in Tabernakel an und auf Strebepfeilern, Tragpfeilern, zwiſchen das Ornament der Chorſtühle, Sacramentshäuschen, Lettner zurück und geht ſo im Zuge der architekto- niſchen Bewegung als eine Art vollerer Sprache des Ornaments auf. Vom Altare vorher von der Malerei verdrängt nimmt ſie als Schnitz- werk einen Theil deſſelben wieder ein und liebt hier wie am Chorgeſtühl und andern geſchützten Stellen das weichere Holz, womit der herrſchende ornamentiſtiſche Charakter noch beſtimmter ausgeſprochen iſt. In dieſer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/163>, abgerufen am 06.05.2024.