Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.2. Verschiedene Bedingungen, die theils im Klima, theils im Cultus- 3. Der letzte Satz des Paragraphen führt ein neues Moment ein: 2. Verſchiedene Bedingungen, die theils im Klima, theils im Cultus- 3. Der letzte Satz des Paragraphen führt ein neues Moment ein: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <pb facs="#f0030" n="190"/> <p> <hi rendition="#et">2. Verſchiedene Bedingungen, die theils im Klima, theils im Cultus-<lb/> bedürfniſſe und in beſtimmten praktiſchen Zwecken liegen, führen gewiſſe<lb/> ſtructive Nothwendigkeiten mit ſich, die zunächſt rein äußerlich und mecha-<lb/> niſch gegeben ſind und die großen Fortſchritte der Technik bedingen. Es<lb/> handelt ſich hier, wie die Geſchichte der Baukunſt zeigen wird, namentlich<lb/> von dem für den Charakter des Bauſtyls entſcheidenden Theil, der Decke.<lb/> Die häufigeren und ſtärkeren Regen in Griechenland forderten das giebel-<lb/> förmige Dach, das dem ägyptiſchen Bau fehlte. Der Rundbogen wurde<lb/> nöthig, wenn man einen größeren innern Raum überſpannen wollte, der<lb/> Spitzbogen, wenn man den ſtarken Seitenſchub des Rundbogens vermeiden<lb/> und zugleich, wie <hi rendition="#g">Bötticher</hi> in dem trefflichen Excurs ſeiner Epoche-machen-<lb/> den Schrift über die Tektonik der Hellenen: „Die Entwicklung der freien<lb/> Glieder des Baus“ u. ſ. w. gezeigt hat, bei ungleichen Spannweiten und<lb/> Stützen-Diſtanzen dennoch gleiche Kämpferhöhe der Stützen und Scheitel-<lb/> höhe der Gurten einhalten wollte, wo denn die Nothwendigkeit hoher<lb/> Sprengung des Spitzbogens zugleich die ungemeine Verſtärkung der Höhe-<lb/> richtung mit ſich brachte. Allein dieſe Wandlungen gingen ebenſoſehr aus<lb/> einer äſthetiſchen Quelle, d. h. aus einem Drange der künſtleriſchen<lb/> Phantaſie hervor, dem ethiſch-religiöſen Leben der Nation entſprechenden<lb/> Ausdruck in der Form zu geben. Das ſtumpfwinkliche griechiſche Giebel-<lb/> dach vollendet weſentlich den Charakter ruhigen Abſchluſſes, befriedigter<lb/> Harmonie, der Rundbogen und ſein Gewölbe drückt klar das gemeſſen<lb/> fortſchreitende Ueberbreiten der Macht des römiſchen Staats über die<lb/> Völker, dann daſſelbe Streben und den noch einfachen Idealismus in der<lb/> erſten chriſtlichen Kirche, der Spitzbogen-Bau den entfalteten Geiſt der<lb/> Tranſcendenz und des reichen Einzellebens der nur corporativ zuſammen-<lb/> gehaltenen Individualitäten aus. Es iſt nicht abzuſehen, warum dieſe<lb/> großen Unterſchiede nicht gleichzeitig aus zwei Quellen, der näheren eines<lb/> ſtructiven Gebotes, der tieferen einer ethiſchen Stimmung ſollten fließen<lb/> können, und wenn Bötticher (im a. Excurſe S. 16) die geiſtige Erklärung<lb/> des Spitzbogengewölbes den romantiſchen Enthuſiaſten überlaſſen will, ſo<lb/> kann man dagegen fragen, was denn ſchließlich mechaniſch genöthigt habe,<lb/> das gebundene Verhältniß der Abſtandsweiten oder die Ungleichheit der<lb/> Sprengungshöhen zu verlaſſen, und ob nicht ſchon die Entwicklung des<lb/> Thurmes zeige, daß die ſtärkere Höhe-Richtung nicht bloß durch<lb/> ſtructive Wölbungsbedingungen herbeigeführt, ſondern innerlich im Zuge<lb/> der Phantaſie begründet war. Daß die Rückkehr zu claſſiſchen Formen<lb/> in der neueren Zeit nicht nur ſtructive Urſachen hatte, ſondern tief in der<lb/> ganzen Stimmung und Anſchauung lag, iſt beſonders einleuchtend.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">3. Der letzte Satz des Paragraphen führt ein neues Moment ein:<lb/> das <hi rendition="#g">decorative</hi>, welches die im engeren Sinn ſogenannten Glieder<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0030]
2. Verſchiedene Bedingungen, die theils im Klima, theils im Cultus-
bedürfniſſe und in beſtimmten praktiſchen Zwecken liegen, führen gewiſſe
ſtructive Nothwendigkeiten mit ſich, die zunächſt rein äußerlich und mecha-
niſch gegeben ſind und die großen Fortſchritte der Technik bedingen. Es
handelt ſich hier, wie die Geſchichte der Baukunſt zeigen wird, namentlich
von dem für den Charakter des Bauſtyls entſcheidenden Theil, der Decke.
Die häufigeren und ſtärkeren Regen in Griechenland forderten das giebel-
förmige Dach, das dem ägyptiſchen Bau fehlte. Der Rundbogen wurde
nöthig, wenn man einen größeren innern Raum überſpannen wollte, der
Spitzbogen, wenn man den ſtarken Seitenſchub des Rundbogens vermeiden
und zugleich, wie Bötticher in dem trefflichen Excurs ſeiner Epoche-machen-
den Schrift über die Tektonik der Hellenen: „Die Entwicklung der freien
Glieder des Baus“ u. ſ. w. gezeigt hat, bei ungleichen Spannweiten und
Stützen-Diſtanzen dennoch gleiche Kämpferhöhe der Stützen und Scheitel-
höhe der Gurten einhalten wollte, wo denn die Nothwendigkeit hoher
Sprengung des Spitzbogens zugleich die ungemeine Verſtärkung der Höhe-
richtung mit ſich brachte. Allein dieſe Wandlungen gingen ebenſoſehr aus
einer äſthetiſchen Quelle, d. h. aus einem Drange der künſtleriſchen
Phantaſie hervor, dem ethiſch-religiöſen Leben der Nation entſprechenden
Ausdruck in der Form zu geben. Das ſtumpfwinkliche griechiſche Giebel-
dach vollendet weſentlich den Charakter ruhigen Abſchluſſes, befriedigter
Harmonie, der Rundbogen und ſein Gewölbe drückt klar das gemeſſen
fortſchreitende Ueberbreiten der Macht des römiſchen Staats über die
Völker, dann daſſelbe Streben und den noch einfachen Idealismus in der
erſten chriſtlichen Kirche, der Spitzbogen-Bau den entfalteten Geiſt der
Tranſcendenz und des reichen Einzellebens der nur corporativ zuſammen-
gehaltenen Individualitäten aus. Es iſt nicht abzuſehen, warum dieſe
großen Unterſchiede nicht gleichzeitig aus zwei Quellen, der näheren eines
ſtructiven Gebotes, der tieferen einer ethiſchen Stimmung ſollten fließen
können, und wenn Bötticher (im a. Excurſe S. 16) die geiſtige Erklärung
des Spitzbogengewölbes den romantiſchen Enthuſiaſten überlaſſen will, ſo
kann man dagegen fragen, was denn ſchließlich mechaniſch genöthigt habe,
das gebundene Verhältniß der Abſtandsweiten oder die Ungleichheit der
Sprengungshöhen zu verlaſſen, und ob nicht ſchon die Entwicklung des
Thurmes zeige, daß die ſtärkere Höhe-Richtung nicht bloß durch
ſtructive Wölbungsbedingungen herbeigeführt, ſondern innerlich im Zuge
der Phantaſie begründet war. Daß die Rückkehr zu claſſiſchen Formen
in der neueren Zeit nicht nur ſtructive Urſachen hatte, ſondern tief in der
ganzen Stimmung und Anſchauung lag, iſt beſonders einleuchtend.
3. Der letzte Satz des Paragraphen führt ein neues Moment ein:
das decorative, welches die im engeren Sinn ſogenannten Glieder
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