Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
Falle erscheint zugleich die Zerbrechlichkeit überwunden. Dieser Schein Vischer's Aesthetik. 3. Band. 13
Falle erſcheint zugleich die Zerbrechlichkeit überwunden. Dieſer Schein Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 13
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Falle erſcheint zugleich die Zerbrechlichkeit überwunden. Dieſer Schein
erſtreckt ſich nun aber auch auf die Stütze: wie die Laſt ſich nach ihr zu
ſehnen ſcheint, um vom freien Gang und Schwung auf ihr auszuruhen
und ſich auf’s Neue fortzubewegen, ſo wird die künſtleriſche Phantaſie
auch ſie ſelbſt beflügeln, daß ſie der Laſt entgegenzuſteigen und im
Zuſammenſtoß mit ihr beruhigt ihr Leben zu ſchließen oder, wie man es
faſſen will, in die Laſt übergefloſſen in’s Breite zu verhauchen ſcheint.
Dieſe Bewegung, die Bötticher (Tektonik der Hellenen) uneigentlich,
aber ſchön eine Entwicklung des im Stoffe latenten Lebens nennt und die
ſich allerdings namentlich in der Raum-öffnenden Stütze und der ſcheinbar
ſchwebenden Laſt anſammelt, wird ſich aber über das Ganze erſtrecken;
die Haupt-Maſſen werden einander entgegenzuſteigen und entgegenzuſin-
ken, dann ſich in Knotenpunkten anzuſammeln, in das Breite auseinander-
zugehen und wieder in die Einheit zuſammenzufließen ſcheinen. Die
Schluß-Empfindung wird ſo die einer durch dieſe allgemeine Wechſelwirkung
völlig geſättigten, zum Abſchluß, zur Ruhe gekommenen Schwere ſein, eines
leichten Kriegs der Kräfte, der mit einem vollen Frieden ſchließt. Dieſer
Prozeß iſt nun zunächſt ein ſolcher, der ſich dem in den Geſichtsſinn ein-
gehüllten Wägen zu fühlen gibt, aber ebenſoſehr dem meſſenden Sehen
als ſolchem: es iſt eine Linie-Schönheit, die Linien ſind aber nur die
äußeren Grenzen der Maſſen; indem nun die Maſſen ſich zu bewegen
ſcheinen, ſcheinen auch die Linien ſich zu fliehen und zu finden, das Be-
wegungsloſe und Stumme (§. 555) erwacht zum Leben, die Bahn des
an den Linien hinlaufenden Blicks ſcheint zu einer Bahn zu werden,
welche die Linien ſelbſt durchlaufen. Das Wägen und Meſſen, das im
äſthetiſchen Eindrucke verhüllt, in der techniſchen Aufnahme ausdrücklich
vorgenommen wird, iſt nun, da die Erſtreckungen auf Zahlen ſich zurück-
führen, zugleich ein Zählen, ebenfalls dort ein verhülltes, hier ein aus-
drückliches. Die Zahl iſt ein Verhältnißbegriff und ſo erhellt überhaupt,
daß das Aeſthetiſche dieſes Ganzen ein Wohlverhältniß iſt: wir nennen es
vorerſt ohne weitere Erklärung einen Rhythmus der Verhältniſſe. Hier
liegt denn die eigentliche Schwierigkeit in der Erforſchung des äſthetiſchen
Geheimniſſes der Baukunſt. Wir werden außer ihr nur noch Eine Kunſt
treffen, deren Schönheit in bloßen Verhältniſſen ruht: die Muſik.
Fr. Schlegel hat tief und geiſtreich die Baukunſt eine gefrorne Muſik
genannt. Wir werden auf dieſes Wort zurückkommen, den Widerſpruch
aber gegen frühere Aufſtellungen über die äſthetiſche Unzulänglichkeit
abſtract meßbarer Verhältniſſe, der ſich hier zu ergeben ſcheint, da in’s
Auge faſſen, wo näher von den Formen die Rede ſein wird, welche die
architektoniſche Phantaſie für ihre Aufgabe ſucht.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 13
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