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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Ebendeßwegen ist nun dieser Act so schwer zu fassen, weil das Fassen
ihn aus seiner dunkeln Einheit reißt, Denkbestimmungen hineinträgt und
nur hinzusetzen kann: der so gefaßte Gegenstand selbst sei jedoch kein Den-
ken. So sagt Hallmann (Kunstbestrebungen der Gegenw.) fein, aber
schließlich nichts aufhellend: ein Denken in Formen. Die gewöhnlichen
Bilder sind vom Läutern im Feuer, -- (Bettina an Göthe: meine Phan-
tasie hatte schnell das Irdische an dir verzehrt --), vom chemischen Schmelz-
tiegel, von örtlicher Erhöhung, vom Sieben, vom Reinigen durch Waschen
oder Rütteln genommen. Kant nun nennt dieses Thun ein dynamisches
Dividiren. Hegel weist diese Auffassung oder vielmehr ihre Grundlage,
die Annahme eines Aufeinanderfallens vieler ähnlicher Bilder, wobei "eine
Attractionskraft der ähnlichen Bilder oder deßgleichen angenommen werden
müßte, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche der-
selben aneinander abzureiben", als zu physikalisch ab und setzt die Thätig-
keit einzig in die Intelligenz (Encyclop. §. 455); allein da spricht er
von der Erzeugung der allgemeinen Vorstellungen, diese sind in Wahrheit
der Uebergang nicht zur Phantasie, sondern zur Bildung des abstracten
Begriffs und da tritt freilich die Intelligenz schon herein; im Prozeß der
reinen Formbildung aber erklärt die allgemeine Berufung auf die Intel-
ligenz gar nichts. Intelligenz, aber ganz eingehüllte, wirkt auch in diesem
Act, aber ich weiß noch nicht, wie beschaffen derselbe sei, wenn ich weiß,
daß sie in dem Convolut der wirkenden Kräfte dunkel wirkt. Wir haben
wesentlich ein Verhältniß Einer Gestalt zu vielen Gestalten; diese leihen
jener von dem Ihrigen und umgekehrt giebt jene an diese von dem Ihrigen
ab: ein Prozeß, der offenbar einem Verfahren mit Zahlen verwandt ist.
Kants Divisionstheorie darf so wenig für unwürdig gehalten werden, als
es gewiß ist, daß alle Musik auf verborgenen Zahlenverhältnissen beruht.
Musik freilich ist vergleichungsweise gestaltlos, aber das Ineinanderüber-
gehen von Gestalten zur Schöpfung des für das Auge bestimmten Ideals
hebt ja zuerst ihre Umrisse auf, so daß sie wie körperlos durcheinander
schweben und eine geheime Abrechnung miteinander vornehmen. Dieser
Prozeß ist freilich, wie gezeigt ist, viel verwickelter, als Kant meint. Zunächst
ist er doppelt, nicht einfach. Kant hat nicht ein bereits individuell gebun-
denes Naturschönes vor sich, sondern nur die unbestimmte Menge gewöhn-
licher Erscheinungen aus einer Gattung, aus welcher die Phantasie durch
ihre verhüllte Division ein Abstractum gewinnt. Wir dagegen haben z.
B. einen schönen Mann, welcher der Anschauung begegnet, und zwar schön
in dem näheren Sinne z. B. athletischer Schönheit. Dieser Mann stellt
an sich schon eine von der Natur (wozu für uns auch seine athletische
Uebung gehört) in dynamischem Sinne vollzogene Division dar. Seine
Schönheit ist aber mangelhaft, die Division unvollkommen, es ist nicht der

Ebendeßwegen iſt nun dieſer Act ſo ſchwer zu faſſen, weil das Faſſen
ihn aus ſeiner dunkeln Einheit reißt, Denkbeſtimmungen hineinträgt und
nur hinzuſetzen kann: der ſo gefaßte Gegenſtand ſelbſt ſei jedoch kein Den-
ken. So ſagt Hallmann (Kunſtbeſtrebungen der Gegenw.) fein, aber
ſchließlich nichts aufhellend: ein Denken in Formen. Die gewöhnlichen
Bilder ſind vom Läutern im Feuer, — (Bettina an Göthe: meine Phan-
taſie hatte ſchnell das Irdiſche an dir verzehrt —), vom chemiſchen Schmelz-
tiegel, von örtlicher Erhöhung, vom Sieben, vom Reinigen durch Waſchen
oder Rütteln genommen. Kant nun nennt dieſes Thun ein dynamiſches
Dividiren. Hegel weiſt dieſe Auffaſſung oder vielmehr ihre Grundlage,
die Annahme eines Aufeinanderfallens vieler ähnlicher Bilder, wobei „eine
Attractionskraft der ähnlichen Bilder oder deßgleichen angenommen werden
müßte, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche der-
ſelben aneinander abzureiben“, als zu phyſikaliſch ab und ſetzt die Thätig-
keit einzig in die Intelligenz (Encyclop. §. 455); allein da ſpricht er
von der Erzeugung der allgemeinen Vorſtellungen, dieſe ſind in Wahrheit
der Uebergang nicht zur Phantaſie, ſondern zur Bildung des abſtracten
Begriffs und da tritt freilich die Intelligenz ſchon herein; im Prozeß der
reinen Formbildung aber erklärt die allgemeine Berufung auf die Intel-
ligenz gar nichts. Intelligenz, aber ganz eingehüllte, wirkt auch in dieſem
Act, aber ich weiß noch nicht, wie beſchaffen derſelbe ſei, wenn ich weiß,
daß ſie in dem Convolut der wirkenden Kräfte dunkel wirkt. Wir haben
weſentlich ein Verhältniß Einer Geſtalt zu vielen Geſtalten; dieſe leihen
jener von dem Ihrigen und umgekehrt giebt jene an dieſe von dem Ihrigen
ab: ein Prozeß, der offenbar einem Verfahren mit Zahlen verwandt iſt.
Kants Diviſionstheorie darf ſo wenig für unwürdig gehalten werden, als
es gewiß iſt, daß alle Muſik auf verborgenen Zahlenverhältniſſen beruht.
Muſik freilich iſt vergleichungsweiſe geſtaltlos, aber das Ineinanderüber-
gehen von Geſtalten zur Schöpfung des für das Auge beſtimmten Ideals
hebt ja zuerſt ihre Umriſſe auf, ſo daß ſie wie körperlos durcheinander
ſchweben und eine geheime Abrechnung miteinander vornehmen. Dieſer
Prozeß iſt freilich, wie gezeigt iſt, viel verwickelter, als Kant meint. Zunächſt
iſt er doppelt, nicht einfach. Kant hat nicht ein bereits individuell gebun-
denes Naturſchönes vor ſich, ſondern nur die unbeſtimmte Menge gewöhn-
licher Erſcheinungen aus einer Gattung, aus welcher die Phantaſie durch
ihre verhüllte Diviſion ein Abſtractum gewinnt. Wir dagegen haben z.
B. einen ſchönen Mann, welcher der Anſchauung begegnet, und zwar ſchön
in dem näheren Sinne z. B. athletiſcher Schönheit. Dieſer Mann ſtellt
an ſich ſchon eine von der Natur (wozu für uns auch ſeine athletiſche
Uebung gehört) in dynamiſchem Sinne vollzogene Diviſion dar. Seine
Schönheit iſt aber mangelhaft, die Diviſion unvollkommen, es iſt nicht der

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[353/0067] Ebendeßwegen iſt nun dieſer Act ſo ſchwer zu faſſen, weil das Faſſen ihn aus ſeiner dunkeln Einheit reißt, Denkbeſtimmungen hineinträgt und nur hinzuſetzen kann: der ſo gefaßte Gegenſtand ſelbſt ſei jedoch kein Den- ken. So ſagt Hallmann (Kunſtbeſtrebungen der Gegenw.) fein, aber ſchließlich nichts aufhellend: ein Denken in Formen. Die gewöhnlichen Bilder ſind vom Läutern im Feuer, — (Bettina an Göthe: meine Phan- taſie hatte ſchnell das Irdiſche an dir verzehrt —), vom chemiſchen Schmelz- tiegel, von örtlicher Erhöhung, vom Sieben, vom Reinigen durch Waſchen oder Rütteln genommen. Kant nun nennt dieſes Thun ein dynamiſches Dividiren. Hegel weiſt dieſe Auffaſſung oder vielmehr ihre Grundlage, die Annahme eines Aufeinanderfallens vieler ähnlicher Bilder, wobei „eine Attractionskraft der ähnlichen Bilder oder deßgleichen angenommen werden müßte, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche der- ſelben aneinander abzureiben“, als zu phyſikaliſch ab und ſetzt die Thätig- keit einzig in die Intelligenz (Encyclop. §. 455); allein da ſpricht er von der Erzeugung der allgemeinen Vorſtellungen, dieſe ſind in Wahrheit der Uebergang nicht zur Phantaſie, ſondern zur Bildung des abſtracten Begriffs und da tritt freilich die Intelligenz ſchon herein; im Prozeß der reinen Formbildung aber erklärt die allgemeine Berufung auf die Intel- ligenz gar nichts. Intelligenz, aber ganz eingehüllte, wirkt auch in dieſem Act, aber ich weiß noch nicht, wie beſchaffen derſelbe ſei, wenn ich weiß, daß ſie in dem Convolut der wirkenden Kräfte dunkel wirkt. Wir haben weſentlich ein Verhältniß Einer Geſtalt zu vielen Geſtalten; dieſe leihen jener von dem Ihrigen und umgekehrt giebt jene an dieſe von dem Ihrigen ab: ein Prozeß, der offenbar einem Verfahren mit Zahlen verwandt iſt. Kants Diviſionstheorie darf ſo wenig für unwürdig gehalten werden, als es gewiß iſt, daß alle Muſik auf verborgenen Zahlenverhältniſſen beruht. Muſik freilich iſt vergleichungsweiſe geſtaltlos, aber das Ineinanderüber- gehen von Geſtalten zur Schöpfung des für das Auge beſtimmten Ideals hebt ja zuerſt ihre Umriſſe auf, ſo daß ſie wie körperlos durcheinander ſchweben und eine geheime Abrechnung miteinander vornehmen. Dieſer Prozeß iſt freilich, wie gezeigt iſt, viel verwickelter, als Kant meint. Zunächſt iſt er doppelt, nicht einfach. Kant hat nicht ein bereits individuell gebun- denes Naturſchönes vor ſich, ſondern nur die unbeſtimmte Menge gewöhn- licher Erſcheinungen aus einer Gattung, aus welcher die Phantaſie durch ihre verhüllte Diviſion ein Abſtractum gewinnt. Wir dagegen haben z. B. einen ſchönen Mann, welcher der Anſchauung begegnet, und zwar ſchön in dem näheren Sinne z. B. athletiſcher Schönheit. Dieſer Mann ſtellt an ſich ſchon eine von der Natur (wozu für uns auch ſeine athletiſche Uebung gehört) in dynamiſchem Sinne vollzogene Diviſion dar. Seine Schönheit iſt aber mangelhaft, die Diviſion unvollkommen, es iſt nicht der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/67>, abgerufen am 24.11.2024.