Straffheit der Individualität, von den tüchtigen Einzelwesen aller Sphären des Daseins. Nun ist aber der Mangel auch der bedeutenden Individua- lität im Reiche des Naturschönen dieser: erstens gewiße Züge der Gattung kann das Individuum, zunächst überhaupt und abgesehen von seinen zeit- lichen Entwicklungsstufen, allerdings in ihrer vollen Bestimmtheit nicht haben, weil sie mit den andern, die es hat, in Einem Wesen nicht ver- einbar sind; Cato kann nicht weich, Tasso nicht praktisch sein u. s. w. Determinatio est negatio. Doch können diese Züge, obwohl sie mit seinen wesentlichen Zügen unvereinbar scheinen, nicht völlig fehlen; jedes Indi- viduum ist eine schwierig verschlungene Einheit, denn es weist auf die ganze Gattung hinaus: Cato ist also kein weicher Charakter, aber er kann auch weich sein u. s. w. Diese "mitverbundenen Züge" nun drücken im unmittelbaren (naturschönen) Dasein störend auf die Hauptzüge. Die letzteren müssen also verstärkt werden, ohne jene auszuschließen. Es muß demnach aus den umschwebenden Gattungsbildern Solches aufgenommen werden, worin gerade die Hauptzüge sich voller und ungestörter ausdrü- cken, und es muß die zu volle Stärke der mitverbundenen Züge hinaus- gewiesen werden in das Weite, wo sie unter die Gattungsbilder mit allem dem, was diese von Solchem darboten, das dieser Form der individuellen Bindung widerspricht und daher ausgestoßen werden muß, in Vergessen- heit zerfließt. Dann ist in diesen Hauptzügen die Gattung, denn es sind gesammelte Kräfte der Gattung, in Reinheit ausgedrückt; da aber die anderen, miteingeschlungenen darum nicht fehlen, wird zugleich auf die Unendlichkeit der Gattung außerhalb dieses Individuums hinausgewiesen. Zweitens in der zeitlichen Entfaltung seines Wesens sinkt das Individuum durch die stete Einmischung des störenden Zufalls unter sich selbst herab und stellt, statt sich und sein Gesetz, seine Lebens-Idee, Anderes, was hierher nicht gehört, mit dar. Unter den umschwebenden Bildern des Le- bensverlaufs verwandter Individuen mit den hieher gehörigen Zufällen müssen also diejenigen heraufgenommen werden, welche eine, sei es durch Förderung oder Hinderniß, zur glücklichen Entwicklung reizende Sollizita- tion enthalten, und ausgeschieden müssen die entgegengesetzten werden.
Dieß gilt also vom Individuum, welchem Reiche es angehören mag, und unter Individuum ist ebenso ein eigentliches Einzelwesen wie eine Einheit mehrerer zur Bethätigung einer Idee in der Zeitfolge einer Hand- lung zusammentretender zu verstehen.
Daß nun dieser Act nicht durch Absicht und Reflexion vollzogen wer- den kann, bedarf keines neuen Beweises, deßwegen nicht, weil die ganze Bewegung im Gebiete der vom Gehalte schlechtweg ungetrennten Form vor sich geht und der so gestaltende Geist mit sich und seinem gan- zen Gehalt in die Formbildende Thätigkeit ohne Rückhalt versenkt ist.
Straffheit der Individualität, von den tüchtigen Einzelweſen aller Sphären des Daſeins. Nun iſt aber der Mangel auch der bedeutenden Individua- lität im Reiche des Naturſchönen dieſer: erſtens gewiße Züge der Gattung kann das Individuum, zunächſt überhaupt und abgeſehen von ſeinen zeit- lichen Entwicklungsſtufen, allerdings in ihrer vollen Beſtimmtheit nicht haben, weil ſie mit den andern, die es hat, in Einem Weſen nicht ver- einbar ſind; Cato kann nicht weich, Taſſo nicht praktiſch ſein u. ſ. w. Determinatio est negatio. Doch können dieſe Züge, obwohl ſie mit ſeinen weſentlichen Zügen unvereinbar ſcheinen, nicht völlig fehlen; jedes Indi- viduum iſt eine ſchwierig verſchlungene Einheit, denn es weist auf die ganze Gattung hinaus: Cato iſt alſo kein weicher Charakter, aber er kann auch weich ſein u. ſ. w. Dieſe „mitverbundenen Züge“ nun drücken im unmittelbaren (naturſchönen) Daſein ſtörend auf die Hauptzüge. Die letzteren müſſen alſo verſtärkt werden, ohne jene auszuſchließen. Es muß demnach aus den umſchwebenden Gattungsbildern Solches aufgenommen werden, worin gerade die Hauptzüge ſich voller und ungeſtörter ausdrü- cken, und es muß die zu volle Stärke der mitverbundenen Züge hinaus- gewieſen werden in das Weite, wo ſie unter die Gattungsbilder mit allem dem, was dieſe von Solchem darboten, das dieſer Form der individuellen Bindung widerſpricht und daher ausgeſtoßen werden muß, in Vergeſſen- heit zerfließt. Dann iſt in dieſen Hauptzügen die Gattung, denn es ſind geſammelte Kräfte der Gattung, in Reinheit ausgedrückt; da aber die anderen, miteingeſchlungenen darum nicht fehlen, wird zugleich auf die Unendlichkeit der Gattung außerhalb dieſes Individuums hinausgewieſen. Zweitens in der zeitlichen Entfaltung ſeines Weſens ſinkt das Individuum durch die ſtete Einmiſchung des ſtörenden Zufalls unter ſich ſelbſt herab und ſtellt, ſtatt ſich und ſein Geſetz, ſeine Lebens-Idee, Anderes, was hierher nicht gehört, mit dar. Unter den umſchwebenden Bildern des Le- bensverlaufs verwandter Individuen mit den hieher gehörigen Zufällen müſſen alſo diejenigen heraufgenommen werden, welche eine, ſei es durch Förderung oder Hinderniß, zur glücklichen Entwicklung reizende Sollizita- tion enthalten, und ausgeſchieden müſſen die entgegengeſetzten werden.
Dieß gilt alſo vom Individuum, welchem Reiche es angehören mag, und unter Individuum iſt ebenſo ein eigentliches Einzelweſen wie eine Einheit mehrerer zur Bethätigung einer Idee in der Zeitfolge einer Hand- lung zuſammentretender zu verſtehen.
Daß nun dieſer Act nicht durch Abſicht und Reflexion vollzogen wer- den kann, bedarf keines neuen Beweiſes, deßwegen nicht, weil die ganze Bewegung im Gebiete der vom Gehalte ſchlechtweg ungetrennten Form vor ſich geht und der ſo geſtaltende Geiſt mit ſich und ſeinem gan- zen Gehalt in die Formbildende Thätigkeit ohne Rückhalt verſenkt iſt.
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Straffheit der Individualität, von den tüchtigen Einzelweſen aller Sphären
des Daſeins. Nun iſt aber der Mangel auch der bedeutenden Individua-
lität im Reiche des Naturſchönen dieſer: erſtens gewiße Züge der Gattung
kann das Individuum, zunächſt überhaupt und abgeſehen von ſeinen zeit-
lichen Entwicklungsſtufen, allerdings in ihrer vollen Beſtimmtheit nicht
haben, weil ſie mit den andern, die es hat, in Einem Weſen nicht ver-
einbar ſind; Cato kann nicht weich, Taſſo nicht praktiſch ſein u. ſ. w.
Determinatio est negatio. Doch können dieſe Züge, obwohl ſie mit ſeinen
weſentlichen Zügen unvereinbar ſcheinen, nicht völlig fehlen; jedes Indi-
viduum iſt eine ſchwierig verſchlungene Einheit, denn es weist auf die
ganze Gattung hinaus: Cato iſt alſo kein weicher Charakter, aber er kann
auch weich ſein u. ſ. w. Dieſe „mitverbundenen Züge“ nun drücken im
unmittelbaren (naturſchönen) Daſein ſtörend auf die Hauptzüge. Die
letzteren müſſen alſo verſtärkt werden, ohne jene auszuſchließen. Es muß
demnach aus den umſchwebenden Gattungsbildern Solches aufgenommen
werden, worin gerade die Hauptzüge ſich voller und ungeſtörter ausdrü-
cken, und es muß die zu volle Stärke der mitverbundenen Züge hinaus-
gewieſen werden in das Weite, wo ſie unter die Gattungsbilder mit allem
dem, was dieſe von Solchem darboten, das dieſer Form der individuellen
Bindung widerſpricht und daher ausgeſtoßen werden muß, in Vergeſſen-
heit zerfließt. Dann iſt in dieſen Hauptzügen die Gattung, denn es ſind
geſammelte Kräfte der Gattung, in Reinheit ausgedrückt; da aber die
anderen, miteingeſchlungenen darum nicht fehlen, wird zugleich auf die
Unendlichkeit der Gattung außerhalb dieſes Individuums hinausgewieſen.
Zweitens in der zeitlichen Entfaltung ſeines Weſens ſinkt das Individuum
durch die ſtete Einmiſchung des ſtörenden Zufalls unter ſich ſelbſt herab
und ſtellt, ſtatt ſich und ſein Geſetz, ſeine Lebens-Idee, Anderes, was
hierher nicht gehört, mit dar. Unter den umſchwebenden Bildern des Le-
bensverlaufs verwandter Individuen mit den hieher gehörigen Zufällen
müſſen alſo diejenigen heraufgenommen werden, welche eine, ſei es durch
Förderung oder Hinderniß, zur glücklichen Entwicklung reizende Sollizita-
tion enthalten, und ausgeſchieden müſſen die entgegengeſetzten werden.
Dieß gilt alſo vom Individuum, welchem Reiche es angehören mag,
und unter Individuum iſt ebenſo ein eigentliches Einzelweſen wie eine
Einheit mehrerer zur Bethätigung einer Idee in der Zeitfolge einer Hand-
lung zuſammentretender zu verſtehen.
Daß nun dieſer Act nicht durch Abſicht und Reflexion vollzogen wer-
den kann, bedarf keines neuen Beweiſes, deßwegen nicht, weil die
ganze Bewegung im Gebiete der vom Gehalte ſchlechtweg ungetrennten
Form vor ſich geht und der ſo geſtaltende Geiſt mit ſich und ſeinem gan-
zen Gehalt in die Formbildende Thätigkeit ohne Rückhalt verſenkt iſt.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/66>, abgerufen am 08.07.2024.
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