Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
richtige Quotient. Die Phantasie nun nimmt sein Bild, aber auch
richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0068" n="354"/> richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch<lb/> die vielen Bilder der anderen Männer, deren beſondere Schönheiten er in<lb/> ſich geſammelt darſtellt, auf, und ſie muß nun den Diviſionsprozeß, um<lb/> den wahren Quotienten aus dieſen zu finden, erneuern. Der Prozeß iſt<lb/> alſo zuerſt darum verwickelt, weil die vorgefundene Diviſion aufgehoben<lb/> und reiner wiederhergeſtellt werden muß. Allein er iſt verwickelt noch in<lb/> einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenſchaften in Form,<lb/> Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieſer Eigenſchaften muß die Di-<lb/> viſion vorgenommen werden, aber alle dieſe verſchiedenen Diviſionen zu-<lb/> gleich immer mit Rückſicht auf das Maaß, in welchem Eigen-<lb/> ſchaften verſchiedener, bis zum Widerſpruch ſich verwickelnder Art in einem<lb/> Individuum vereinbar ſind. Dieſe ſchwierige Verſchlingung fand ſchon<lb/> ſtatt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als ſie eine<lb/> unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenſchaften zu einem Indivi-<lb/> duum vornahm. Theilweis irrte ſie, indem ſie Störendes in die Einheit<lb/> warf. Die Phantaſie muß ihr Werk alſo eben in dieſem Sinne wieder-<lb/> holen und von ſeinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab-<lb/> zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur ſchon gegebenen,<lb/> individuellen Zuſammenziehung abzuweichen. Können wir dieſem ver-<lb/> ſchlungenen Prozeß nicht weiter folgen, ſo dürfen wir mit Recht ſagen:<lb/> die bisherigen Verſuche, die Phantaſie zu begreifen, haben nichts erklärt,<lb/> wir aber weiſen wenigſtens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen<lb/> muß; klingt dieſe Weiſung ſeltſam, weil der Geiſt ſich des Zählens oder<lb/> zählenden Meſſens in dieſer Operation nicht bewußt iſt, ſo erwäge man,<lb/> daß ein mit den Geſetzen der zur Vergleichung ſchon angeführten Muſik<lb/> unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wiſſen, daß<lb/> die Formen der Geſtalt zwar Raumverhältniſſe ſind, aus geheimen Bau-<lb/> geſetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältniſſe Ob-<lb/> jecte des Meſſens und Zählens; daß ebenſo Farbe und Licht auf zählbarer<lb/> Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es<lb/> ſeien Zahlen, mit denen man zu thun hat, ſo wie ich bei jeder körper-<lb/> lichen Handlung aus Inſtinkt unbewußt die Entfernung meſſe, die mein<lb/> Arm zurücklegen muß u. ſ. w. Klingt ſie zu niedrig, ſo erwäge man,<lb/> daß in die Factoren dieſes Zählens und in das Zählen ſelbſt eine geiſtige<lb/> Welt eingegangen iſt, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver-<lb/> geſſe nicht das ſchon Geſagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende<lb/> Geiſtige müſſe vielmehr in gedankenartiger Operation als das Beſtimmende<lb/> des Prozeſſes gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei-<lb/> dung von Körper und Seele im Gegenſtand, Sinnlichkeit und Geiſt im<lb/> Subjecte zerſtört wird.</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [354/0068]
richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch
die vielen Bilder der anderen Männer, deren beſondere Schönheiten er in
ſich geſammelt darſtellt, auf, und ſie muß nun den Diviſionsprozeß, um
den wahren Quotienten aus dieſen zu finden, erneuern. Der Prozeß iſt
alſo zuerſt darum verwickelt, weil die vorgefundene Diviſion aufgehoben
und reiner wiederhergeſtellt werden muß. Allein er iſt verwickelt noch in
einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenſchaften in Form,
Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieſer Eigenſchaften muß die Di-
viſion vorgenommen werden, aber alle dieſe verſchiedenen Diviſionen zu-
gleich immer mit Rückſicht auf das Maaß, in welchem Eigen-
ſchaften verſchiedener, bis zum Widerſpruch ſich verwickelnder Art in einem
Individuum vereinbar ſind. Dieſe ſchwierige Verſchlingung fand ſchon
ſtatt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als ſie eine
unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenſchaften zu einem Indivi-
duum vornahm. Theilweis irrte ſie, indem ſie Störendes in die Einheit
warf. Die Phantaſie muß ihr Werk alſo eben in dieſem Sinne wieder-
holen und von ſeinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab-
zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur ſchon gegebenen,
individuellen Zuſammenziehung abzuweichen. Können wir dieſem ver-
ſchlungenen Prozeß nicht weiter folgen, ſo dürfen wir mit Recht ſagen:
die bisherigen Verſuche, die Phantaſie zu begreifen, haben nichts erklärt,
wir aber weiſen wenigſtens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen
muß; klingt dieſe Weiſung ſeltſam, weil der Geiſt ſich des Zählens oder
zählenden Meſſens in dieſer Operation nicht bewußt iſt, ſo erwäge man,
daß ein mit den Geſetzen der zur Vergleichung ſchon angeführten Muſik
unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wiſſen, daß
die Formen der Geſtalt zwar Raumverhältniſſe ſind, aus geheimen Bau-
geſetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältniſſe Ob-
jecte des Meſſens und Zählens; daß ebenſo Farbe und Licht auf zählbarer
Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es
ſeien Zahlen, mit denen man zu thun hat, ſo wie ich bei jeder körper-
lichen Handlung aus Inſtinkt unbewußt die Entfernung meſſe, die mein
Arm zurücklegen muß u. ſ. w. Klingt ſie zu niedrig, ſo erwäge man,
daß in die Factoren dieſes Zählens und in das Zählen ſelbſt eine geiſtige
Welt eingegangen iſt, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver-
geſſe nicht das ſchon Geſagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende
Geiſtige müſſe vielmehr in gedankenartiger Operation als das Beſtimmende
des Prozeſſes gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei-
dung von Körper und Seele im Gegenſtand, Sinnlichkeit und Geiſt im
Subjecte zerſtört wird.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |