richtige Quotient. Die Phantasie nun nimmt sein Bild, aber auch die vielen Bilder der anderen Männer, deren besondere Schönheiten er in sich gesammelt darstellt, auf, und sie muß nun den Divisionsprozeß, um den wahren Quotienten aus diesen zu finden, erneuern. Der Prozeß ist also zuerst darum verwickelt, weil die vorgefundene Division aufgehoben und reiner wiederhergestellt werden muß. Allein er ist verwickelt noch in einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenschaften in Form, Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieser Eigenschaften muß die Di- vision vorgenommen werden, aber alle diese verschiedenen Divisionen zu- gleich immer mit Rücksicht auf das Maaß, in welchem Eigen- schaften verschiedener, bis zum Widerspruch sich verwickelnder Art in einem Individuum vereinbar sind. Diese schwierige Verschlingung fand schon statt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als sie eine unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenschaften zu einem Indivi- duum vornahm. Theilweis irrte sie, indem sie Störendes in die Einheit warf. Die Phantasie muß ihr Werk also eben in diesem Sinne wieder- holen und von seinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab- zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur schon gegebenen, individuellen Zusammenziehung abzuweichen. Können wir diesem ver- schlungenen Prozeß nicht weiter folgen, so dürfen wir mit Recht sagen: die bisherigen Versuche, die Phantasie zu begreifen, haben nichts erklärt, wir aber weisen wenigstens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen muß; klingt diese Weisung seltsam, weil der Geist sich des Zählens oder zählenden Messens in dieser Operation nicht bewußt ist, so erwäge man, daß ein mit den Gesetzen der zur Vergleichung schon angeführten Musik unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wissen, daß die Formen der Gestalt zwar Raumverhältnisse sind, aus geheimen Bau- gesetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältnisse Ob- jecte des Messens und Zählens; daß ebenso Farbe und Licht auf zählbarer Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es seien Zahlen, mit denen man zu thun hat, so wie ich bei jeder körper- lichen Handlung aus Instinkt unbewußt die Entfernung messe, die mein Arm zurücklegen muß u. s. w. Klingt sie zu niedrig, so erwäge man, daß in die Factoren dieses Zählens und in das Zählen selbst eine geistige Welt eingegangen ist, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver- gesse nicht das schon Gesagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende Geistige müsse vielmehr in gedankenartiger Operation als das Bestimmende des Prozesses gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei- dung von Körper und Seele im Gegenstand, Sinnlichkeit und Geist im Subjecte zerstört wird.
richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch die vielen Bilder der anderen Männer, deren beſondere Schönheiten er in ſich geſammelt darſtellt, auf, und ſie muß nun den Diviſionsprozeß, um den wahren Quotienten aus dieſen zu finden, erneuern. Der Prozeß iſt alſo zuerſt darum verwickelt, weil die vorgefundene Diviſion aufgehoben und reiner wiederhergeſtellt werden muß. Allein er iſt verwickelt noch in einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenſchaften in Form, Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieſer Eigenſchaften muß die Di- viſion vorgenommen werden, aber alle dieſe verſchiedenen Diviſionen zu- gleich immer mit Rückſicht auf das Maaß, in welchem Eigen- ſchaften verſchiedener, bis zum Widerſpruch ſich verwickelnder Art in einem Individuum vereinbar ſind. Dieſe ſchwierige Verſchlingung fand ſchon ſtatt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als ſie eine unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenſchaften zu einem Indivi- duum vornahm. Theilweis irrte ſie, indem ſie Störendes in die Einheit warf. Die Phantaſie muß ihr Werk alſo eben in dieſem Sinne wieder- holen und von ſeinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab- zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur ſchon gegebenen, individuellen Zuſammenziehung abzuweichen. Können wir dieſem ver- ſchlungenen Prozeß nicht weiter folgen, ſo dürfen wir mit Recht ſagen: die bisherigen Verſuche, die Phantaſie zu begreifen, haben nichts erklärt, wir aber weiſen wenigſtens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen muß; klingt dieſe Weiſung ſeltſam, weil der Geiſt ſich des Zählens oder zählenden Meſſens in dieſer Operation nicht bewußt iſt, ſo erwäge man, daß ein mit den Geſetzen der zur Vergleichung ſchon angeführten Muſik unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wiſſen, daß die Formen der Geſtalt zwar Raumverhältniſſe ſind, aus geheimen Bau- geſetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältniſſe Ob- jecte des Meſſens und Zählens; daß ebenſo Farbe und Licht auf zählbarer Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es ſeien Zahlen, mit denen man zu thun hat, ſo wie ich bei jeder körper- lichen Handlung aus Inſtinkt unbewußt die Entfernung meſſe, die mein Arm zurücklegen muß u. ſ. w. Klingt ſie zu niedrig, ſo erwäge man, daß in die Factoren dieſes Zählens und in das Zählen ſelbſt eine geiſtige Welt eingegangen iſt, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver- geſſe nicht das ſchon Geſagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende Geiſtige müſſe vielmehr in gedankenartiger Operation als das Beſtimmende des Prozeſſes gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei- dung von Körper und Seele im Gegenſtand, Sinnlichkeit und Geiſt im Subjecte zerſtört wird.
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[354/0068]
richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch
die vielen Bilder der anderen Männer, deren beſondere Schönheiten er in
ſich geſammelt darſtellt, auf, und ſie muß nun den Diviſionsprozeß, um
den wahren Quotienten aus dieſen zu finden, erneuern. Der Prozeß iſt
alſo zuerſt darum verwickelt, weil die vorgefundene Diviſion aufgehoben
und reiner wiederhergeſtellt werden muß. Allein er iſt verwickelt noch in
einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenſchaften in Form,
Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieſer Eigenſchaften muß die Di-
viſion vorgenommen werden, aber alle dieſe verſchiedenen Diviſionen zu-
gleich immer mit Rückſicht auf das Maaß, in welchem Eigen-
ſchaften verſchiedener, bis zum Widerſpruch ſich verwickelnder Art in einem
Individuum vereinbar ſind. Dieſe ſchwierige Verſchlingung fand ſchon
ſtatt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als ſie eine
unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenſchaften zu einem Indivi-
duum vornahm. Theilweis irrte ſie, indem ſie Störendes in die Einheit
warf. Die Phantaſie muß ihr Werk alſo eben in dieſem Sinne wieder-
holen und von ſeinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab-
zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur ſchon gegebenen,
individuellen Zuſammenziehung abzuweichen. Können wir dieſem ver-
ſchlungenen Prozeß nicht weiter folgen, ſo dürfen wir mit Recht ſagen:
die bisherigen Verſuche, die Phantaſie zu begreifen, haben nichts erklärt,
wir aber weiſen wenigſtens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen
muß; klingt dieſe Weiſung ſeltſam, weil der Geiſt ſich des Zählens oder
zählenden Meſſens in dieſer Operation nicht bewußt iſt, ſo erwäge man,
daß ein mit den Geſetzen der zur Vergleichung ſchon angeführten Muſik
unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wiſſen, daß
die Formen der Geſtalt zwar Raumverhältniſſe ſind, aus geheimen Bau-
geſetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältniſſe Ob-
jecte des Meſſens und Zählens; daß ebenſo Farbe und Licht auf zählbarer
Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es
ſeien Zahlen, mit denen man zu thun hat, ſo wie ich bei jeder körper-
lichen Handlung aus Inſtinkt unbewußt die Entfernung meſſe, die mein
Arm zurücklegen muß u. ſ. w. Klingt ſie zu niedrig, ſo erwäge man,
daß in die Factoren dieſes Zählens und in das Zählen ſelbſt eine geiſtige
Welt eingegangen iſt, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver-
geſſe nicht das ſchon Geſagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende
Geiſtige müſſe vielmehr in gedankenartiger Operation als das Beſtimmende
des Prozeſſes gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei-
dung von Körper und Seele im Gegenſtand, Sinnlichkeit und Geiſt im
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/68>, abgerufen am 08.07.2024.
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