orientalischen Phantasie reden. Nun liegt aber eine Schwierigkeit vor. Die freie Phantasie soll (s. §. 388) einen Gegenstand aus der ursprüng- lichen Stoffwelt innerhalb seiner Individualität in's Unendliche umbilden. Davon, daß diese Individualität bei den Griechen ihre unend- liche Eigenheit noch nicht in subjectiver Vertiefung zusammenfaßte, sehen wir jetzt noch ab; auch so war für sie der Einzelne nur sich selbst gleich, hatte Züge, die nur einmal so vorkommen konnten. Zwar sie idealisirten ja (zunächst wenigstens) nicht den empirischen Menschen, sondern sie schufen Götter. Nun wissen wir aber bereits, wie der Gott, der an sich die empirisch menschliche Individualität nicht hatte, doch eine solche bekam: durch seine Naturgrundlage (vergl. §. 434). Die so begründete Indivi- dualität nun enthielt als solche auch die Möglichkeit, bis zu der härteren Eigenthümlichkeit fortzugehen, welche aus der reinen Harmonie des Lebens und ihrem Ausdruck in den reinen Gattungszügen der Gestalt in unregel- mäßigerer Linie ausbiegt. Diese härtere Ausbiegung verbot aber zunächst der mythische Standpunkt: der Gott sollte ja Gott bleiben, er durfte also bis zur Besonderung fortgehen, aber nicht bis zur Vereinze- lung; die Götter stellten gewisse Kreise des Lebens dar, "sie erschie- nen als das Allgemeine dessen, was der Mensch (je in be- sonderen Sphären) als Individuum (zersprengt und mangelhaft) ist und vollbringt" (Hegel a. a. O. Thl. 2, S. 94); und auch diese Be- sonderheit sollte ungetrübt wieder die Allgemeinheit, der ganze Gott sein, dieser heitere Widerspruch des Polytheismus durfte nicht zerhauen werden. Schon darum mußte in diesem idealen Kreise und in allen weiteren, die er mit seinem Götterlichte beschien, die einzelne Gestalt schön sein. Wir werden sehen, daß das Mittelalter, obwohl auch noch mythisch vorstel- lend, nicht dieselbe ästhetische Pflicht hatte. Allerdings aber erklärt sich die ganze Bedeutung dieses Gesetzes erst aus den folgenden §§. Was thaten nun die Griechen, um dem Ideale individuellen Anhauch zu geben und doch jene Linie nicht zu übertreten? Sie zogen mit zarter Hand die Gestalt bis an die Schwelle derjenigen Abweichungen von der Gattung, durch die sich das In- dividuum isolirt, hüteten sich aber wohl, sie zu überschreiten. Sie näher- ten leise die Formen einer Ausschweifung, welche je der Aufgabe gemäß mehr oder minder an das Thierische oder bei dem Mann an das Weib- liche, bei dem Weib an das Männliche grenzte; aber genau, wo ein Absprung entstanden wäre, der nur zu lösen gewesen wäre, wenn der Gott, mit der Vielheit der menschlichen Individuen auf Eine Linie gestellt, durch die ästhetische Mitwirkung dieser seine Mängel hätte ergänzen können -- was ja eben nicht der Fall war, --: da hielten sie inne. So hat das Jupiter-Ideal etwas vom Löwen, das Here-Ideal vom Stiere, Apollo und Artemis vom Hirsche; Athene grenzt an das männlich Herbe, Dio-
orientaliſchen Phantaſie reden. Nun liegt aber eine Schwierigkeit vor. Die freie Phantaſie ſoll (ſ. §. 388) einen Gegenſtand aus der urſprüng- lichen Stoffwelt innerhalb ſeiner Individualität in’s Unendliche umbilden. Davon, daß dieſe Individualität bei den Griechen ihre unend- liche Eigenheit noch nicht in ſubjectiver Vertiefung zuſammenfaßte, ſehen wir jetzt noch ab; auch ſo war für ſie der Einzelne nur ſich ſelbſt gleich, hatte Züge, die nur einmal ſo vorkommen konnten. Zwar ſie idealiſirten ja (zunächſt wenigſtens) nicht den empiriſchen Menſchen, ſondern ſie ſchufen Götter. Nun wiſſen wir aber bereits, wie der Gott, der an ſich die empiriſch menſchliche Individualität nicht hatte, doch eine ſolche bekam: durch ſeine Naturgrundlage (vergl. §. 434). Die ſo begründete Indivi- dualität nun enthielt als ſolche auch die Möglichkeit, bis zu der härteren Eigenthümlichkeit fortzugehen, welche aus der reinen Harmonie des Lebens und ihrem Ausdruck in den reinen Gattungszügen der Geſtalt in unregel- mäßigerer Linie ausbiegt. Dieſe härtere Ausbiegung verbot aber zunächſt der mythiſche Standpunkt: der Gott ſollte ja Gott bleiben, er durfte alſo bis zur Beſonderung fortgehen, aber nicht bis zur Vereinze- lung; die Götter ſtellten gewiſſe Kreiſe des Lebens dar, „ſie erſchie- nen als das Allgemeine deſſen, was der Menſch (je in be- ſonderen Sphären) als Individuum (zerſprengt und mangelhaft) iſt und vollbringt“ (Hegel a. a. O. Thl. 2, S. 94); und auch dieſe Be- ſonderheit ſollte ungetrübt wieder die Allgemeinheit, der ganze Gott ſein, dieſer heitere Widerſpruch des Polytheiſmus durfte nicht zerhauen werden. Schon darum mußte in dieſem idealen Kreiſe und in allen weiteren, die er mit ſeinem Götterlichte beſchien, die einzelne Geſtalt ſchön ſein. Wir werden ſehen, daß das Mittelalter, obwohl auch noch mythiſch vorſtel- lend, nicht dieſelbe äſthetiſche Pflicht hatte. Allerdings aber erklärt ſich die ganze Bedeutung dieſes Geſetzes erſt aus den folgenden §§. Was thaten nun die Griechen, um dem Ideale individuellen Anhauch zu geben und doch jene Linie nicht zu übertreten? Sie zogen mit zarter Hand die Geſtalt bis an die Schwelle derjenigen Abweichungen von der Gattung, durch die ſich das In- dividuum iſolirt, hüteten ſich aber wohl, ſie zu überſchreiten. Sie näher- ten leiſe die Formen einer Ausſchweifung, welche je der Aufgabe gemäß mehr oder minder an das Thieriſche oder bei dem Mann an das Weib- liche, bei dem Weib an das Männliche grenzte; aber genau, wo ein Abſprung entſtanden wäre, der nur zu löſen geweſen wäre, wenn der Gott, mit der Vielheit der menſchlichen Individuen auf Eine Linie geſtellt, durch die äſthetiſche Mitwirkung dieſer ſeine Mängel hätte ergänzen können — was ja eben nicht der Fall war, —: da hielten ſie inne. So hat das Jupiter-Ideal etwas vom Löwen, das Here-Ideal vom Stiere, Apollo und Artemis vom Hirſche; Athene grenzt an das männlich Herbe, Dio-
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orientaliſchen Phantaſie reden. Nun liegt aber eine Schwierigkeit vor.
Die freie Phantaſie ſoll (ſ. §. 388) einen Gegenſtand aus der urſprüng-
lichen Stoffwelt innerhalb ſeiner Individualität in’s Unendliche
umbilden. Davon, daß dieſe Individualität bei den Griechen ihre unend-
liche Eigenheit noch nicht in ſubjectiver Vertiefung zuſammenfaßte, ſehen
wir jetzt noch ab; auch ſo war für ſie der Einzelne nur ſich ſelbſt gleich,
hatte Züge, die nur einmal ſo vorkommen konnten. Zwar ſie idealiſirten
ja (zunächſt wenigſtens) nicht den empiriſchen Menſchen, ſondern ſie
ſchufen Götter. Nun wiſſen wir aber bereits, wie der Gott, der an ſich
die empiriſch menſchliche Individualität nicht hatte, doch eine ſolche bekam:
durch ſeine Naturgrundlage (vergl. §. 434). Die ſo begründete Indivi-
dualität nun enthielt als ſolche auch die Möglichkeit, bis zu der härteren
Eigenthümlichkeit fortzugehen, welche aus der reinen Harmonie des Lebens
und ihrem Ausdruck in den reinen Gattungszügen der Geſtalt in unregel-
mäßigerer Linie ausbiegt. Dieſe härtere Ausbiegung verbot aber zunächſt
der mythiſche Standpunkt: der Gott ſollte ja Gott bleiben, er durfte
alſo bis zur Beſonderung fortgehen, aber nicht bis zur Vereinze-
lung; die Götter ſtellten gewiſſe Kreiſe des Lebens dar, „ſie erſchie-
nen als das Allgemeine deſſen, was der Menſch (je in be-
ſonderen Sphären) als Individuum (zerſprengt und mangelhaft) iſt
und vollbringt“ (Hegel a. a. O. Thl. 2, S. 94); und auch dieſe Be-
ſonderheit ſollte ungetrübt wieder die Allgemeinheit, der ganze Gott ſein,
dieſer heitere Widerſpruch des Polytheiſmus durfte nicht zerhauen werden.
Schon darum mußte in dieſem idealen Kreiſe und in allen weiteren, die
er mit ſeinem Götterlichte beſchien, die einzelne Geſtalt ſchön ſein.
Wir werden ſehen, daß das Mittelalter, obwohl auch noch mythiſch vorſtel-
lend, nicht dieſelbe äſthetiſche Pflicht hatte. Allerdings aber erklärt ſich die ganze
Bedeutung dieſes Geſetzes erſt aus den folgenden §§. Was thaten nun die
Griechen, um dem Ideale individuellen Anhauch zu geben und doch jene Linie
nicht zu übertreten? Sie zogen mit zarter Hand die Geſtalt bis an die
Schwelle derjenigen Abweichungen von der Gattung, durch die ſich das In-
dividuum iſolirt, hüteten ſich aber wohl, ſie zu überſchreiten. Sie näher-
ten leiſe die Formen einer Ausſchweifung, welche je der Aufgabe gemäß
mehr oder minder an das Thieriſche oder bei dem Mann an das Weib-
liche, bei dem Weib an das Männliche grenzte; aber genau, wo ein
Abſprung entſtanden wäre, der nur zu löſen geweſen wäre, wenn der
Gott, mit der Vielheit der menſchlichen Individuen auf Eine Linie geſtellt,
durch die äſthetiſche Mitwirkung dieſer ſeine Mängel hätte ergänzen können
— was ja eben nicht der Fall war, —: da hielten ſie inne. So hat das
Jupiter-Ideal etwas vom Löwen, das Here-Ideal vom Stiere, Apollo
und Artemis vom Hirſche; Athene grenzt an das männlich Herbe, Dio-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/172>, abgerufen am 16.02.2025.
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