1. Wir hatten, als wir die orientalische Phantasie landschaftlich nannten, dem Mißverständniß zuvorzukommen, als habe sie irgend die Land- schaft ästhetisch auffassen können; sie vereinzelte ihre großen Erscheinungen, um sie im Symbole wieder zu vergessen. Aber doch waren diese Er- scheinungen der wichtigste Gegenstand ihrer Verehrung. Die Griechen dagegen vergaßen nicht nur die Naturerscheinungen über dem Symbole, das sie selbst bedeutete, sondern auch dieses über dem Gott, welcher Sittliches -- nicht bedeutete, sondern war. Der Gott sog die Landschaft in sich auf; statt des Flusses sahen sie den Flußgott, statt des Aethers Zeus u. s. w., und im Flußgott, in Zeus sahen sie sittliche Zwecke, worauf sie die Naturerscheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten sie ohnedieß keine Sehnsucht nach der Natur und dem Widerschein subjectiver Stimmungen in ihr haben, weil sie selbst Natur waren. Sie fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer- störende in ihren Erscheinungen, aber immer nur in seinen Wirkungen auf menschliche Bedürfnisse, Genüsse, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd- länder selbst, sondern der Nordländer die Schönheit jener Natur ästhe- tisch anschaut. Besondern Sinn aber mußten sie für thierische Schönheit haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperspective, des Helldunkels, der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbestimmt, das Thier aber ist organisch fest, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene menschliche Lebensform in ihrer bruchlosen Einfachheit war Menschenwürde in Verwandtschaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher ist das volle Gefühl für die Thiergestalt ausgebildet. Die Indier, die Assyrer, Perser, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffassung und Wie- dergebung derselben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantasie. Die Griechen liebten die Thierform wie etwas Verwandtes, stellten sie aber darum keineswegs zu hoch; war der Mensch in gewissem Sinn thierähnlich, so fühlte er sich auch als eine unendlich edlere Thierart, war sich auch des unendlichen Mehr, des absoluten Unterschieds der Menschenwürde bewußt. Der Mensch ist daher und bleibt der höchste und wichtigste Stoff dieser Phantasie und so ist das Bild des Menschen, das sie schafft, erst wahrhaft menschlich: nicht nur der Thierkopf ist verschwunden, sondern auch das starre, todte Angesicht; es hat Seelenblick, es sieht Auge in Auge, es grüßt menschlich den Menschen.
2. Ist der Gott Mensch, so bringt die Bedeutung ihre Gestaltung selbst organisch mit, die sie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun der so gegebene Stoff als Gehalt und Gestalt von allem störenden Zufall gereinigt und in's Unendliche gehoben, so entsteht das Ideal. Man kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der
1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich nannten, dem Mißverſtändniß zuvorzukommen, als habe ſie irgend die Land- ſchaft äſthetiſch auffaſſen können; ſie vereinzelte ihre großen Erſcheinungen, um ſie im Symbole wieder zu vergeſſen. Aber doch waren dieſe Er- ſcheinungen der wichtigſte Gegenſtand ihrer Verehrung. Die Griechen dagegen vergaßen nicht nur die Naturerſcheinungen über dem Symbole, das ſie ſelbſt bedeutete, ſondern auch dieſes über dem Gott, welcher Sittliches — nicht bedeutete, ſondern war. Der Gott ſog die Landſchaft in ſich auf; ſtatt des Fluſſes ſahen ſie den Flußgott, ſtatt des Aethers Zeus u. ſ. w., und im Flußgott, in Zeus ſahen ſie ſittliche Zwecke, worauf ſie die Naturerſcheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten ſie ohnedieß keine Sehnſucht nach der Natur und dem Widerſchein ſubjectiver Stimmungen in ihr haben, weil ſie ſelbſt Natur waren. Sie fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer- ſtörende in ihren Erſcheinungen, aber immer nur in ſeinen Wirkungen auf menſchliche Bedürfniſſe, Genüſſe, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd- länder ſelbſt, ſondern der Nordländer die Schönheit jener Natur äſthe- tiſch anſchaut. Beſondern Sinn aber mußten ſie für thieriſche Schönheit haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperſpective, des Helldunkels, der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbeſtimmt, das Thier aber iſt organiſch feſt, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene menſchliche Lebensform in ihrer bruchloſen Einfachheit war Menſchenwürde in Verwandtſchaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher iſt das volle Gefühl für die Thiergeſtalt ausgebildet. Die Indier, die Aſſyrer, Perſer, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffaſſung und Wie- dergebung derſelben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantaſie. Die Griechen liebten die Thierform wie etwas Verwandtes, ſtellten ſie aber darum keineswegs zu hoch; war der Menſch in gewiſſem Sinn thierähnlich, ſo fühlte er ſich auch als eine unendlich edlere Thierart, war ſich auch des unendlichen Mehr, des abſoluten Unterſchieds der Menſchenwürde bewußt. Der Menſch iſt daher und bleibt der höchſte und wichtigſte Stoff dieſer Phantaſie und ſo iſt das Bild des Menſchen, das ſie ſchafft, erſt wahrhaft menſchlich: nicht nur der Thierkopf iſt verſchwunden, ſondern auch das ſtarre, todte Angeſicht; es hat Seelenblick, es ſieht Auge in Auge, es grüßt menſchlich den Menſchen.
2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung ſelbſt organiſch mit, die ſie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun der ſo gegebene Stoff als Gehalt und Geſtalt von allem ſtörenden Zufall gereinigt und in’s Unendliche gehoben, ſo entſteht das Ideal. Man kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der
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1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich
nannten, dem Mißverſtändniß zuvorzukommen, als habe ſie irgend die Land-
ſchaft äſthetiſch auffaſſen können; ſie vereinzelte ihre großen Erſcheinungen,
um ſie im Symbole wieder zu vergeſſen. Aber doch waren dieſe Er-
ſcheinungen der wichtigſte Gegenſtand ihrer Verehrung. Die Griechen
dagegen vergaßen nicht nur die Naturerſcheinungen über dem Symbole, das
ſie ſelbſt bedeutete, ſondern auch dieſes über dem Gott, welcher Sittliches
— nicht bedeutete, ſondern war. Der Gott ſog die Landſchaft in ſich
auf; ſtatt des Fluſſes ſahen ſie den Flußgott, ſtatt des Aethers Zeus
u. ſ. w., und im Flußgott, in Zeus ſahen ſie ſittliche Zwecke, worauf
ſie die Naturerſcheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten
ſie ohnedieß keine Sehnſucht nach der Natur und dem Widerſchein
ſubjectiver Stimmungen in ihr haben, weil ſie ſelbſt Natur waren. Sie
fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer-
ſtörende in ihren Erſcheinungen, aber immer nur in ſeinen Wirkungen auf
menſchliche Bedürfniſſe, Genüſſe, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd-
länder ſelbſt, ſondern der Nordländer die Schönheit jener Natur äſthe-
tiſch anſchaut. Beſondern Sinn aber mußten ſie für thieriſche Schönheit
haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperſpective, des Helldunkels,
der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbeſtimmt, das
Thier aber iſt organiſch feſt, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene
menſchliche Lebensform in ihrer bruchloſen Einfachheit war Menſchenwürde
in Verwandtſchaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher iſt das
volle Gefühl für die Thiergeſtalt ausgebildet. Die Indier, die Aſſyrer,
Perſer, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffaſſung und Wie-
dergebung derſelben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß
im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantaſie. Die Griechen liebten
die Thierform wie etwas Verwandtes, ſtellten ſie aber darum keineswegs
zu hoch; war der Menſch in gewiſſem Sinn thierähnlich, ſo fühlte er
ſich auch als eine unendlich edlere Thierart, war ſich auch des unendlichen
Mehr, des abſoluten Unterſchieds der Menſchenwürde bewußt. Der Menſch
iſt daher und bleibt der höchſte und wichtigſte Stoff dieſer Phantaſie und
ſo iſt das Bild des Menſchen, das ſie ſchafft, erſt wahrhaft menſchlich:
nicht nur der Thierkopf iſt verſchwunden, ſondern auch das ſtarre, todte
Angeſicht; es hat Seelenblick, es ſieht Auge in Auge, es grüßt menſchlich
den Menſchen.
2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung
ſelbſt organiſch mit, die ſie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun
der ſo gegebene Stoff als Gehalt und Geſtalt von allem ſtörenden Zufall
gereinigt und in’s Unendliche gehoben, ſo entſteht das Ideal. Man
kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/171>, abgerufen am 08.07.2024.
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