Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.1. Wir hatten, als wir die orientalische Phantasie landschaftlich 2. Ist der Gott Mensch, so bringt die Bedeutung ihre Gestaltung 1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich 2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0171" n="457"/> <p> <hi rendition="#et">1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich<lb/> nannten, dem Mißverſtändniß zuvorzukommen, als habe ſie irgend die Land-<lb/> ſchaft äſthetiſch auffaſſen können; ſie vereinzelte ihre großen Erſcheinungen,<lb/> um ſie im Symbole wieder zu vergeſſen. Aber doch waren dieſe Er-<lb/> ſcheinungen der wichtigſte Gegenſtand ihrer Verehrung. Die Griechen<lb/> dagegen vergaßen nicht nur die Naturerſcheinungen über dem Symbole, das<lb/> ſie ſelbſt bedeutete, ſondern auch dieſes über dem Gott, welcher Sittliches<lb/> — nicht bedeutete, ſondern war. Der Gott ſog die Landſchaft in ſich<lb/> auf; ſtatt des Fluſſes ſahen ſie den Flußgott, ſtatt des Aethers Zeus<lb/> u. ſ. w., und im Flußgott, in Zeus ſahen ſie ſittliche Zwecke, worauf<lb/> ſie die Naturerſcheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten<lb/> ſie ohnedieß keine Sehnſucht nach der Natur und dem Widerſchein<lb/> ſubjectiver Stimmungen in ihr haben, weil ſie ſelbſt Natur waren. Sie<lb/> fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer-<lb/> ſtörende in ihren Erſcheinungen, aber immer nur in ſeinen Wirkungen auf<lb/> menſchliche Bedürfniſſe, Genüſſe, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd-<lb/> länder ſelbſt, ſondern der Nordländer die Schönheit jener Natur <hi rendition="#g">äſthe-<lb/> tiſch</hi> anſchaut. Beſondern Sinn aber mußten ſie für thieriſche Schönheit<lb/> haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperſpective, des Helldunkels,<lb/> der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbeſtimmt, das<lb/> Thier aber iſt organiſch feſt, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene<lb/> menſchliche Lebensform in ihrer bruchloſen Einfachheit war Menſchenwürde<lb/> in Verwandtſchaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher iſt das<lb/> volle Gefühl für die Thiergeſtalt ausgebildet. Die Indier, die Aſſyrer,<lb/> Perſer, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffaſſung und Wie-<lb/> dergebung derſelben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß<lb/> im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantaſie. Die Griechen liebten<lb/> die Thierform wie etwas Verwandtes, ſtellten ſie aber darum keineswegs<lb/> zu hoch; war der Menſch in gewiſſem Sinn thierähnlich, ſo fühlte er<lb/> ſich auch als eine unendlich edlere Thierart, war ſich auch des unendlichen<lb/> Mehr, des abſoluten Unterſchieds der Menſchenwürde bewußt. Der Menſch<lb/> iſt daher und bleibt der höchſte und wichtigſte Stoff dieſer Phantaſie und<lb/> ſo iſt das Bild des Menſchen, das ſie ſchafft, erſt wahrhaft menſchlich:<lb/> nicht nur der Thierkopf iſt verſchwunden, ſondern auch das ſtarre, todte<lb/> Angeſicht; es hat Seelenblick, es ſieht Auge in Auge, es grüßt menſchlich<lb/> den Menſchen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung<lb/> ſelbſt organiſch mit, die ſie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun<lb/> der ſo gegebene Stoff als Gehalt und Geſtalt von allem ſtörenden Zufall<lb/> gereinigt und in’s Unendliche gehoben, ſo entſteht das <hi rendition="#g">Ideal</hi>. Man<lb/> kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [457/0171]
1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich
nannten, dem Mißverſtändniß zuvorzukommen, als habe ſie irgend die Land-
ſchaft äſthetiſch auffaſſen können; ſie vereinzelte ihre großen Erſcheinungen,
um ſie im Symbole wieder zu vergeſſen. Aber doch waren dieſe Er-
ſcheinungen der wichtigſte Gegenſtand ihrer Verehrung. Die Griechen
dagegen vergaßen nicht nur die Naturerſcheinungen über dem Symbole, das
ſie ſelbſt bedeutete, ſondern auch dieſes über dem Gott, welcher Sittliches
— nicht bedeutete, ſondern war. Der Gott ſog die Landſchaft in ſich
auf; ſtatt des Fluſſes ſahen ſie den Flußgott, ſtatt des Aethers Zeus
u. ſ. w., und im Flußgott, in Zeus ſahen ſie ſittliche Zwecke, worauf
ſie die Naturerſcheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten
ſie ohnedieß keine Sehnſucht nach der Natur und dem Widerſchein
ſubjectiver Stimmungen in ihr haben, weil ſie ſelbſt Natur waren. Sie
fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer-
ſtörende in ihren Erſcheinungen, aber immer nur in ſeinen Wirkungen auf
menſchliche Bedürfniſſe, Genüſſe, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd-
länder ſelbſt, ſondern der Nordländer die Schönheit jener Natur äſthe-
tiſch anſchaut. Beſondern Sinn aber mußten ſie für thieriſche Schönheit
haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperſpective, des Helldunkels,
der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbeſtimmt, das
Thier aber iſt organiſch feſt, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene
menſchliche Lebensform in ihrer bruchloſen Einfachheit war Menſchenwürde
in Verwandtſchaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher iſt das
volle Gefühl für die Thiergeſtalt ausgebildet. Die Indier, die Aſſyrer,
Perſer, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffaſſung und Wie-
dergebung derſelben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß
im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantaſie. Die Griechen liebten
die Thierform wie etwas Verwandtes, ſtellten ſie aber darum keineswegs
zu hoch; war der Menſch in gewiſſem Sinn thierähnlich, ſo fühlte er
ſich auch als eine unendlich edlere Thierart, war ſich auch des unendlichen
Mehr, des abſoluten Unterſchieds der Menſchenwürde bewußt. Der Menſch
iſt daher und bleibt der höchſte und wichtigſte Stoff dieſer Phantaſie und
ſo iſt das Bild des Menſchen, das ſie ſchafft, erſt wahrhaft menſchlich:
nicht nur der Thierkopf iſt verſchwunden, ſondern auch das ſtarre, todte
Angeſicht; es hat Seelenblick, es ſieht Auge in Auge, es grüßt menſchlich
den Menſchen.
2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung
ſelbſt organiſch mit, die ſie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun
der ſo gegebene Stoff als Gehalt und Geſtalt von allem ſtörenden Zufall
gereinigt und in’s Unendliche gehoben, ſo entſteht das Ideal. Man
kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der
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