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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Neunzehnte Vorlesung.
Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist, von
denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne
Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fort-
schreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so
setzen sie immer neue junge Zonen an die alten an, und wir
werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungen verfolgen
wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass wir
in der äussersten Umgebung immer die jungen, im Centrum
immer die alten Theile finden. Nun erstreckt sich aber
die Zone der letzten Erkrankung um ein Bedeu-
tendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone
der Veränderung hinaus
. Wenn man irgend eine wuchernde
Geschwulst von zelligem Character untersucht, so findet man
oft 3--5 Linien über die scheinbare Grenze der Geschwulst
hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen
Zone schon gegeben. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen
Recidive nach der Exstirpation, welche dadurch zu Stande kom-
men, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie
die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen
anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut,
sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe lie-
genden, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie
das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller
ihre weitere Entwickelung gestalten.

Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich
wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen
contagiösen Habitus an sich haben. So lange als man
sich dachte, dass die einmal gegebene Masse von sich aus
wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man
weiter keine andere Aufgabe, als dieser Geschwulst die weitere
Zufuhr abzuschneiden. Allein in allen diesen Fällen wird
offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet,
und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd austossen-
den Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten
Elementen in Verbindung stehen, auch die heterologe Wuche-
rung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders
denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie

Neunzehnte Vorlesung.
Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist, von
denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne
Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fort-
schreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so
setzen sie immer neue junge Zonen an die alten an, und wir
werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungen verfolgen
wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass wir
in der äussersten Umgebung immer die jungen, im Centrum
immer die alten Theile finden. Nun erstreckt sich aber
die Zone der letzten Erkrankung um ein Bedeu-
tendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone
der Veränderung hinaus
. Wenn man irgend eine wuchernde
Geschwulst von zelligem Character untersucht, so findet man
oft 3—5 Linien über die scheinbare Grenze der Geschwulst
hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen
Zone schon gegeben. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen
Recidive nach der Exstirpation, welche dadurch zu Stande kom-
men, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie
die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen
anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut,
sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe lie-
genden, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie
das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller
ihre weitere Entwickelung gestalten.

Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich
wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen
contagiösen Habitus an sich haben. So lange als man
sich dachte, dass die einmal gegebene Masse von sich aus
wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man
weiter keine andere Aufgabe, als dieser Geschwulst die weitere
Zufuhr abzuschneiden. Allein in allen diesen Fällen wird
offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet,
und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd austossen-
den Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten
Elementen in Verbindung stehen, auch die heterologe Wuche-
rung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders
denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie

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[406/0428] Neunzehnte Vorlesung. Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist, von denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fort- schreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so setzen sie immer neue junge Zonen an die alten an, und wir werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungen verfolgen wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass wir in der äussersten Umgebung immer die jungen, im Centrum immer die alten Theile finden. Nun erstreckt sich aber die Zone der letzten Erkrankung um ein Bedeu- tendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone der Veränderung hinaus. Wenn man irgend eine wuchernde Geschwulst von zelligem Character untersucht, so findet man oft 3—5 Linien über die scheinbare Grenze der Geschwulst hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen Zone schon gegeben. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen Recidive nach der Exstirpation, welche dadurch zu Stande kom- men, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut, sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe lie- genden, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller ihre weitere Entwickelung gestalten. Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen contagiösen Habitus an sich haben. So lange als man sich dachte, dass die einmal gegebene Masse von sich aus wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man weiter keine andere Aufgabe, als dieser Geschwulst die weitere Zufuhr abzuschneiden. Allein in allen diesen Fällen wird offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet, und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd austossen- den Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten Elementen in Verbindung stehen, auch die heterologe Wuche- rung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/428>, abgerufen am 27.04.2024.