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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Neunzehnte Vorlesung.
untersuchen, obwohl der Eiter scheinbar immer noch vorhanden
ist, nicht mehr darauf rechnen können, in dem Heerde unver-
sehrten Eiter zu finden. Der Eiter, der Wochen und Monate lang
irgendwo gesteckt hat, ist genau genommen kein Eiter mehr,
es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile,
welche durch fettige Metamorphose, faulige Prozesse, Kalkab-
lagerungen und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen
finden wir, dass ein Krebsknoten Monate lang bestehen und
dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten kann.
Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges
Element längere Zeit existiren könne, als ein eiteriges, grade
so, wie wir wissen, dass die Schilddrüse länger existirt als
die Thymusdrüse, dass gewisse Organe z. B. einzelne Theile
des Sexualapparates im Laufe des gewöhnlichen Lebens früh-
zeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben
hindurch erhalten. So ist es auch bei pathologischen Neubil-
dungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Formen schon lange
ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst
an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neu-
bildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so früh-
zeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass
die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigent-
lich characteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel
haben wir den Fall, dass die Majorität der neueren Beobachter,
welche sich ex professo mit dem Studium des Tuberkels be-
fasst haben, das Rückbildungsstadium für das eigentlich typi-
sche genommen und dass man daraus Schlüsse auf die Natur
des ganzen Vorganges gemacht hat, welche man mit demsel-
ben Rechte auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs
hätte machen können.

Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für
wenige Elemente in Zahlen anzugeben, wie sich ihre mittlere
Lebensdauer verhält. Offenbar existiren hier ähnliche Schwan-
kungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen
pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz
gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten ver-
möchte, keine einzige, deren Elemente so lange existiren
könnten, wie das Individuum, oder zu bleibenden Bestand-

Neunzehnte Vorlesung.
untersuchen, obwohl der Eiter scheinbar immer noch vorhanden
ist, nicht mehr darauf rechnen können, in dem Heerde unver-
sehrten Eiter zu finden. Der Eiter, der Wochen und Monate lang
irgendwo gesteckt hat, ist genau genommen kein Eiter mehr,
es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile,
welche durch fettige Metamorphose, faulige Prozesse, Kalkab-
lagerungen und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen
finden wir, dass ein Krebsknoten Monate lang bestehen und
dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten kann.
Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges
Element längere Zeit existiren könne, als ein eiteriges, grade
so, wie wir wissen, dass die Schilddrüse länger existirt als
die Thymusdrüse, dass gewisse Organe z. B. einzelne Theile
des Sexualapparates im Laufe des gewöhnlichen Lebens früh-
zeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben
hindurch erhalten. So ist es auch bei pathologischen Neubil-
dungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Formen schon lange
ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst
an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neu-
bildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so früh-
zeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass
die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigent-
lich characteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel
haben wir den Fall, dass die Majorität der neueren Beobachter,
welche sich ex professo mit dem Studium des Tuberkels be-
fasst haben, das Rückbildungsstadium für das eigentlich typi-
sche genommen und dass man daraus Schlüsse auf die Natur
des ganzen Vorganges gemacht hat, welche man mit demsel-
ben Rechte auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs
hätte machen können.

Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für
wenige Elemente in Zahlen anzugeben, wie sich ihre mittlere
Lebensdauer verhält. Offenbar existiren hier ähnliche Schwan-
kungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen
pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz
gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten ver-
möchte, keine einzige, deren Elemente so lange existiren
könnten, wie das Individuum, oder zu bleibenden Bestand-

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[404/0426] Neunzehnte Vorlesung. untersuchen, obwohl der Eiter scheinbar immer noch vorhanden ist, nicht mehr darauf rechnen können, in dem Heerde unver- sehrten Eiter zu finden. Der Eiter, der Wochen und Monate lang irgendwo gesteckt hat, ist genau genommen kein Eiter mehr, es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile, welche durch fettige Metamorphose, faulige Prozesse, Kalkab- lagerungen und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen finden wir, dass ein Krebsknoten Monate lang bestehen und dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten kann. Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges Element längere Zeit existiren könne, als ein eiteriges, grade so, wie wir wissen, dass die Schilddrüse länger existirt als die Thymusdrüse, dass gewisse Organe z. B. einzelne Theile des Sexualapparates im Laufe des gewöhnlichen Lebens früh- zeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben hindurch erhalten. So ist es auch bei pathologischen Neubil- dungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Formen schon lange ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neu- bildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so früh- zeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigent- lich characteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel haben wir den Fall, dass die Majorität der neueren Beobachter, welche sich ex professo mit dem Studium des Tuberkels be- fasst haben, das Rückbildungsstadium für das eigentlich typi- sche genommen und dass man daraus Schlüsse auf die Natur des ganzen Vorganges gemacht hat, welche man mit demsel- ben Rechte auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs hätte machen können. Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für wenige Elemente in Zahlen anzugeben, wie sich ihre mittlere Lebensdauer verhält. Offenbar existiren hier ähnliche Schwan- kungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten ver- möchte, keine einzige, deren Elemente so lange existiren könnten, wie das Individuum, oder zu bleibenden Bestand-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/426>, abgerufen am 28.04.2024.