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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Neunzehnte Vorlesung.
weichungszustand erzeugt ausser dem durch Fäulniss bedingten.
In wie weit das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zer-
stört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grund-
substanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen
flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt
sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen,
und diese können eben so gut hervorgehen aus der intacten,
wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie
nimmt man gewöhnlich an, dass die Granulationen sich auf
der Wand eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen
jedesmal direct aus dem Gewebe hervor. Sie kommen un-
mittelbar auf dem Knochen vor, ohne dass an demselben ein
Substanzverlust vorherging. Ebenso direct auf der Cutis unter
der intacten Epidermis, ebenso auf der Schleimhaut. Erst in
dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Schleimhaut
ihren normalen Character.

Jede solche Entwickelung geschieht heerdweise, und zwar
ebenso, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens,
wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 124),
welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es
handelt sich in der That um einen Vorgang, welcher in ge-
wöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums sein Analogon
findet. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der
Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function
als Stützgebilde nicht mehr verrichten kann, so sehen wir
auch hier, wie die Festigkeit des Gewebes allmälig unter der
Entwickelung der Granulation und Eiterung schwindet. So
verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction
von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch
an einem gewissen Punkte vollständig zusammen. Es gibt
ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entschei-
den kann, ob es sich an einem Theile um einfache
Vorgänge des Wachsthums, oder um die Entwicke-
lung einer heteroplastischen, zerstörenden Form
handelt
.

Diese Art der Entwickelung, wie ich sie Ihnen eben
schilderte, ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigen-

Neunzehnte Vorlesung.
weichungszustand erzeugt ausser dem durch Fäulniss bedingten.
In wie weit das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zer-
stört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grund-
substanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen
flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt
sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen,
und diese können eben so gut hervorgehen aus der intacten,
wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie
nimmt man gewöhnlich an, dass die Granulationen sich auf
der Wand eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen
jedesmal direct aus dem Gewebe hervor. Sie kommen un-
mittelbar auf dem Knochen vor, ohne dass an demselben ein
Substanzverlust vorherging. Ebenso direct auf der Cutis unter
der intacten Epidermis, ebenso auf der Schleimhaut. Erst in
dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Schleimhaut
ihren normalen Character.

Jede solche Entwickelung geschieht heerdweise, und zwar
ebenso, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens,
wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 124),
welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es
handelt sich in der That um einen Vorgang, welcher in ge-
wöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums sein Analogon
findet. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der
Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function
als Stützgebilde nicht mehr verrichten kann, so sehen wir
auch hier, wie die Festigkeit des Gewebes allmälig unter der
Entwickelung der Granulation und Eiterung schwindet. So
verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction
von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch
an einem gewissen Punkte vollständig zusammen. Es gibt
ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entschei-
den kann, ob es sich an einem Theile um einfache
Vorgänge des Wachsthums, oder um die Entwicke-
lung einer heteroplastischen, zerstörenden Form
handelt
.

Diese Art der Entwickelung, wie ich sie Ihnen eben
schilderte, ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigen-

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[402/0424] Neunzehnte Vorlesung. weichungszustand erzeugt ausser dem durch Fäulniss bedingten. In wie weit das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zer- stört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grund- substanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen, und diese können eben so gut hervorgehen aus der intacten, wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie nimmt man gewöhnlich an, dass die Granulationen sich auf der Wand eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen jedesmal direct aus dem Gewebe hervor. Sie kommen un- mittelbar auf dem Knochen vor, ohne dass an demselben ein Substanzverlust vorherging. Ebenso direct auf der Cutis unter der intacten Epidermis, ebenso auf der Schleimhaut. Erst in dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Schleimhaut ihren normalen Character. Jede solche Entwickelung geschieht heerdweise, und zwar ebenso, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens, wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 124), welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es handelt sich in der That um einen Vorgang, welcher in ge- wöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums sein Analogon findet. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function als Stützgebilde nicht mehr verrichten kann, so sehen wir auch hier, wie die Festigkeit des Gewebes allmälig unter der Entwickelung der Granulation und Eiterung schwindet. So verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch an einem gewissen Punkte vollständig zusammen. Es gibt ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entschei- den kann, ob es sich an einem Theile um einfache Vorgänge des Wachsthums, oder um die Entwicke- lung einer heteroplastischen, zerstörenden Form handelt. Diese Art der Entwickelung, wie ich sie Ihnen eben schilderte, ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigen-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/424>, abgerufen am 28.04.2024.