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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Eiterung des Bindegewebes.

Findet dieser Prozess an einer unversehrten Oberfläche
statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zu-
sammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene
Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellu-
larsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tiefe-
ren Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen er-
füllt, "infiltrirt" oder "abscedirt" sind. Endlich berstet die
Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direct transfor-
mirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben
nach und nach die sogenannten Granulationen, welche
immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache
Quantität von weicher Intercellular-Substanz mehr oder weniger
zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium
der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter
wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die
Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen
der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht
mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine
Ablösung des Epithels ztattzufinden, und dann kann es sein,
dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente
sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung reichlich, so bricht
die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf
der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche
immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Ele-
mente desselben auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigent-
liche Geschwür.

Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter
aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von
Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer
genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes
neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin,
dem Eiter eine gewisse chemische Fähigkeit der Lösung zu-
zuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich
schon lange auf das Mannigfachste überzeugt, dass der Eiter
nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen
hineingesteckt, sie wochenlang liegen lassen, und wenn man
sie nachher wog, so waren sie eher schwerer geworden durch
Aufnahme flüssiger Substanzen, es hatte sich aber kein Er-

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Eiterung des Bindegewebes.

Findet dieser Prozess an einer unversehrten Oberfläche
statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zu-
sammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene
Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellu-
larsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tiefe-
ren Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen er-
füllt, „infiltrirt“ oder „abscedirt“ sind. Endlich berstet die
Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direct transfor-
mirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben
nach und nach die sogenannten Granulationen, welche
immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache
Quantität von weicher Intercellular-Substanz mehr oder weniger
zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium
der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter
wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die
Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen
der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht
mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine
Ablösung des Epithels ztattzufinden, und dann kann es sein,
dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente
sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung reichlich, so bricht
die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf
der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche
immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Ele-
mente desselben auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigent-
liche Geschwür.

Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter
aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von
Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer
genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes
neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin,
dem Eiter eine gewisse chemische Fähigkeit der Lösung zu-
zuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich
schon lange auf das Mannigfachste überzeugt, dass der Eiter
nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen
hineingesteckt, sie wochenlang liegen lassen, und wenn man
sie nachher wog, so waren sie eher schwerer geworden durch
Aufnahme flüssiger Substanzen, es hatte sich aber kein Er-

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[401/0423] Eiterung des Bindegewebes. Findet dieser Prozess an einer unversehrten Oberfläche statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zu- sammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellu- larsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tiefe- ren Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen er- füllt, „infiltrirt“ oder „abscedirt“ sind. Endlich berstet die Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direct transfor- mirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben nach und nach die sogenannten Granulationen, welche immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache Quantität von weicher Intercellular-Substanz mehr oder weniger zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine Ablösung des Epithels ztattzufinden, und dann kann es sein, dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung reichlich, so bricht die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Ele- mente desselben auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigent- liche Geschwür. Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin, dem Eiter eine gewisse chemische Fähigkeit der Lösung zu- zuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich schon lange auf das Mannigfachste überzeugt, dass der Eiter nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen hineingesteckt, sie wochenlang liegen lassen, und wenn man sie nachher wog, so waren sie eher schwerer geworden durch Aufnahme flüssiger Substanzen, es hatte sich aber kein Er- 26

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/423>, abgerufen am 28.04.2024.