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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Neunte Vorlesung.
der grossen Menge es doch keine farblosen Blutkörperchen
mehr sein könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten.
Diesen Schluss machte vor Jahren Bouchut bei Gelegenheit
einer Epidemie vom Puerperal-Fieber, welches er damals für
eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beob-
achtungen für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner
derselbe Schluss, den Bennett in der viel discutirten Priori-
tätssache mit mir gemacht hat, da er einen Fall von unzwei-
felhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, als ich
meinen ersten Fall sah, und da er aus der unerhört grossen
Zahl der farblosen Körperchen den Schluss machte, es sei eine
"Suppuration des Blutes." Freilich war dieser Schluss nicht
originell, sondern basirte sich auf die neulich (S. 140) erwähnte
Hämitis von Piorry, der sich dachte, dass das Blut selbst
sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in
der Wiener Schule spontane Pyämie genannt hat.

Alle diese Irrthümer waren nur hervorgegangen aus dem
Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farb-
losen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben
so einfach vom Standpunkte der Hämatopoese aus zu erklä-
ren, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte
der Pyämie. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle
Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen
Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen,
wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo
man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse
von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem
klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie.

So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Rei-
zungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus-
bestandtheile, die den Drüsen zugeführt werden, einen patho-
logischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir
trinken, die Fette unserer Suppen, die verschiedenen feiner
vertheilten Fette in unseren festeren Speisen gelangen als
kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich
eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten
Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hin-

Neunte Vorlesung.
der grossen Menge es doch keine farblosen Blutkörperchen
mehr sein könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten.
Diesen Schluss machte vor Jahren Bouchut bei Gelegenheit
einer Epidemie vom Puerperal-Fieber, welches er damals für
eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beob-
achtungen für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner
derselbe Schluss, den Bennett in der viel discutirten Priori-
tätssache mit mir gemacht hat, da er einen Fall von unzwei-
felhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, als ich
meinen ersten Fall sah, und da er aus der unerhört grossen
Zahl der farblosen Körperchen den Schluss machte, es sei eine
„Suppuration des Blutes.“ Freilich war dieser Schluss nicht
originell, sondern basirte sich auf die neulich (S. 140) erwähnte
Hämitis von Piorry, der sich dachte, dass das Blut selbst
sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in
der Wiener Schule spontane Pyämie genannt hat.

Alle diese Irrthümer waren nur hervorgegangen aus dem
Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farb-
losen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben
so einfach vom Standpunkte der Hämatopoese aus zu erklä-
ren, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte
der Pyämie. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle
Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen
Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen,
wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo
man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse
von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem
klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie.

So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Rei-
zungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus-
bestandtheile, die den Drüsen zugeführt werden, einen patho-
logischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir
trinken, die Fette unserer Suppen, die verschiedenen feiner
vertheilten Fette in unseren festeren Speisen gelangen als
kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich
eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten
Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hin-

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[170/0192] Neunte Vorlesung. der grossen Menge es doch keine farblosen Blutkörperchen mehr sein könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten. Diesen Schluss machte vor Jahren Bouchut bei Gelegenheit einer Epidemie vom Puerperal-Fieber, welches er damals für eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beob- achtungen für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner derselbe Schluss, den Bennett in der viel discutirten Priori- tätssache mit mir gemacht hat, da er einen Fall von unzwei- felhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, als ich meinen ersten Fall sah, und da er aus der unerhört grossen Zahl der farblosen Körperchen den Schluss machte, es sei eine „Suppuration des Blutes.“ Freilich war dieser Schluss nicht originell, sondern basirte sich auf die neulich (S. 140) erwähnte Hämitis von Piorry, der sich dachte, dass das Blut selbst sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in der Wiener Schule spontane Pyämie genannt hat. Alle diese Irrthümer waren nur hervorgegangen aus dem Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farb- losen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben so einfach vom Standpunkte der Hämatopoese aus zu erklä- ren, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte der Pyämie. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen, wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie. So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Rei- zungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus- bestandtheile, die den Drüsen zugeführt werden, einen patho- logischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir trinken, die Fette unserer Suppen, die verschiedenen feiner vertheilten Fette in unseren festeren Speisen gelangen als kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hin-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/192>, abgerufen am 24.11.2024.