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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Mensch ein kompletes Original sein könnte, und, unverdorben,
dies auch in Gestalt und Wesen zu zeigen vermöchte; und
also gediehen, ein vollkommener Gegenstand der individuellsten
Liebe zu sein fähig wäre. Aber alles ist unter dicker Rinde
der höchsten Verwirrung, in einem Aufruhr von Gemengsel
und Verfehlung: sonst müßten alle Menschen lieben können,
nur lieben wollen; und auch in unserm Alter lieben. Glück
auf, köstlicher Freund! und auch dazu dieser Zuruf; weil die-
ser Lebenszustand Ihre Tage erfüllt, erhellt; reich macht,
ihnen Bedeutung, Grund giebt; alle Augenblicke darin Bezie-
hung und Zweck erhalten: nicht allein also, des kostbaren
Urgrunds dieses Zustandes wegen; der das reinste höchste Ge-
schenk des Himmels ist; ja, ein Stück von ihm selbst, auf
der Irr- und Probebahn mitgegangen. --

Und welch ein Glück haben Sie mir noch verkündet!
Wie fehlte mir dieses Glück. -- Sie sagen mir: Sie haben
nun meinen letzten Brief verstanden, der die Antwort auf
die großen Urfragen enthielt; der eigentlich aussprach, daß
wir nur so viel Gottheit erkennen könnten, als uns im Bu-
sen mitg
egeben ist; daß unsre Vernunft, oder vielmehr der
Durst danach, der einzige Bürge für Urvernunft überhaupt
sei. Das, geliebter Freund, wollten Sie mir zur Zeit etwas
verübeln: und jetzt getraue ich mir Ihnen zu sagen, daß kein
System der Philosophen -- ich kenne sie -- kein Urpunkt
einer Religion zu einem andern Ergebniß hingelangen kann.
Philosophie kann nur den Zustand und die Fähigkeit unseres
Geistes klar darlegen (und, wie Goethe sagt: "den düstern
Wegen unseres Geistes nachspüren," dies ist wenigstens der

Menſch ein kompletes Original ſein könnte, und, unverdorben,
dies auch in Geſtalt und Weſen zu zeigen vermöchte; und
alſo gediehen, ein vollkommener Gegenſtand der individuellſten
Liebe zu ſein fähig wäre. Aber alles iſt unter dicker Rinde
der höchſten Verwirrung, in einem Aufruhr von Gemengſel
und Verfehlung: ſonſt müßten alle Menſchen lieben können,
nur lieben wollen; und auch in unſerm Alter lieben. Glück
auf, köſtlicher Freund! und auch dazu dieſer Zuruf; weil die-
ſer Lebenszuſtand Ihre Tage erfüllt, erhellt; reich macht,
ihnen Bedeutung, Grund giebt; alle Augenblicke darin Bezie-
hung und Zweck erhalten: nicht allein alſo, des koſtbaren
Urgrunds dieſes Zuſtandes wegen; der das reinſte höchſte Ge-
ſchenk des Himmels iſt; ja, ein Stück von ihm ſelbſt, auf
der Irr- und Probebahn mitgegangen. —

Und welch ein Glück haben Sie mir noch verkündet!
Wie fehlte mir dieſes Glück. — Sie ſagen mir: Sie haben
nun meinen letzten Brief verſtanden, der die Antwort auf
die großen Urfragen enthielt; der eigentlich ausſprach, daß
wir nur ſo viel Gottheit erkennen könnten, als uns im Bu-
ſen mitg
egeben iſt; daß unſre Vernunft, oder vielmehr der
Durſt danach, der einzige Bürge für Urvernunft überhaupt
ſei. Das, geliebter Freund, wollten Sie mir zur Zeit etwas
verübeln: und jetzt getraue ich mir Ihnen zu ſagen, daß kein
Syſtem der Philoſophen — ich kenne ſie — kein Urpunkt
einer Religion zu einem andern Ergebniß hingelangen kann.
Philoſophie kann nur den Zuſtand und die Fähigkeit unſeres
Geiſtes klar darlegen (und, wie Goethe ſagt: „den düſtern
Wegen unſeres Geiſtes nachſpüren,“ dies iſt wenigſtens der

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[447/0455] Menſch ein kompletes Original ſein könnte, und, unverdorben, dies auch in Geſtalt und Weſen zu zeigen vermöchte; und alſo gediehen, ein vollkommener Gegenſtand der individuellſten Liebe zu ſein fähig wäre. Aber alles iſt unter dicker Rinde der höchſten Verwirrung, in einem Aufruhr von Gemengſel und Verfehlung: ſonſt müßten alle Menſchen lieben können, nur lieben wollen; und auch in unſerm Alter lieben. Glück auf, köſtlicher Freund! und auch dazu dieſer Zuruf; weil die- ſer Lebenszuſtand Ihre Tage erfüllt, erhellt; reich macht, ihnen Bedeutung, Grund giebt; alle Augenblicke darin Bezie- hung und Zweck erhalten: nicht allein alſo, des koſtbaren Urgrunds dieſes Zuſtandes wegen; der das reinſte höchſte Ge- ſchenk des Himmels iſt; ja, ein Stück von ihm ſelbſt, auf der Irr- und Probebahn mitgegangen. — Und welch ein Glück haben Sie mir noch verkündet! Wie fehlte mir dieſes Glück. — Sie ſagen mir: Sie haben nun meinen letzten Brief verſtanden, der die Antwort auf die großen Urfragen enthielt; der eigentlich ausſprach, daß wir nur ſo viel Gottheit erkennen könnten, als uns im Bu- ſen mitgegeben iſt; daß unſre Vernunft, oder vielmehr der Durſt danach, der einzige Bürge für Urvernunft überhaupt ſei. Das, geliebter Freund, wollten Sie mir zur Zeit etwas verübeln: und jetzt getraue ich mir Ihnen zu ſagen, daß kein Syſtem der Philoſophen — ich kenne ſie — kein Urpunkt einer Religion zu einem andern Ergebniß hingelangen kann. Philoſophie kann nur den Zuſtand und die Fähigkeit unſeres Geiſtes klar darlegen (und, wie Goethe ſagt: „den düſtern Wegen unſeres Geiſtes nachſpüren,“ dies iſt wenigſtens der

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/455>, abgerufen am 27.11.2024.