arm, bürgerliches Mädchen gar nicht braucht; bei der sie sie gar nicht voraussetzen wollen? Nach ihnen giebt es Stände, wo Tugend nicht nöthig ist; und folglich die ihrige nur die, die von ihrem Stande abhängt! Sie kennen so wenig das Wesen von dem, was sie zu lieben vorgeben, daß sie noch nie gewußt haben, daß grade der Tugend Wesen in der Un- abhängigkeit von gegebenen Umständen besteht. Den Vor- zug, sittlich sein zu müssen, wollen sie auch an sich reißen; und Pöbel, roher, in der höchsten Sphäre sein! -- Eine solche Behauptung in Betreff einer Aktrice erfrechte sich vorigen Winter eine fremde Dame (Gott habe sie selig, sie ist nun todt) gegen mich, meiner Zustimmung gewiß, also fast in Prahlerei; daß sie in ihrem selbstangefachten Eifer vergaß, daß ihre eigne Mutter Schauspielerin war, was niemand hier weiß, aber ich grade wußte. Die Arme; ehre-, schande- und liebe- und tugendvergessene Dame. -- Verstocktes Lumpen- volk, welches sich untersteht Christus Namen zu lästern: in- dem es ihn ausspricht! Möge Gott sie erleuchten! und mir verzeihen! fällt mir ein.
Schönes Wetter, nimm mich auf, Bring mich in die Heimath! Mach' ein Ende meiner Qual, Führe zu dem Tod mich hin; In Verändrung leise! Du bist Heimath, fühl' ich wohl, Laß mich hier nicht schmachten. Athem, Seele machst du frei; Frei von Schlechtem, Lasten.
arm, bürgerliches Mädchen gar nicht braucht; bei der ſie ſie gar nicht vorausſetzen wollen? Nach ihnen giebt es Stände, wo Tugend nicht nöthig iſt; und folglich die ihrige nur die, die von ihrem Stande abhängt! Sie kennen ſo wenig das Weſen von dem, was ſie zu lieben vorgeben, daß ſie noch nie gewußt haben, daß grade der Tugend Weſen in der Un- abhängigkeit von gegebenen Umſtänden beſteht. Den Vor- zug, ſittlich ſein zu müſſen, wollen ſie auch an ſich reißen; und Pöbel, roher, in der höchſten Sphäre ſein! — Eine ſolche Behauptung in Betreff einer Aktrice erfrechte ſich vorigen Winter eine fremde Dame (Gott habe ſie ſelig, ſie iſt nun todt) gegen mich, meiner Zuſtimmung gewiß, alſo faſt in Prahlerei; daß ſie in ihrem ſelbſtangefachten Eifer vergaß, daß ihre eigne Mutter Schauſpielerin war, was niemand hier weiß, aber ich grade wußte. Die Arme; ehre-, ſchande- und liebe- und tugendvergeſſene Dame. — Verſtocktes Lumpen- volk, welches ſich unterſteht Chriſtus Namen zu läſtern: in- dem es ihn ausſpricht! Möge Gott ſie erleuchten! und mir verzeihen! fällt mir ein.
Schönes Wetter, nimm mich auf, Bring mich in die Heimath! Mach’ ein Ende meiner Qual, Führe zu dem Tod mich hin; In Verändrung leiſe! Du biſt Heimath, fühl’ ich wohl, Laß mich hier nicht ſchmachten. Athem, Seele machſt du frei; Frei von Schlechtem, Laſten.
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arm, bürgerliches Mädchen gar nicht braucht; bei der ſie ſie
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die von ihrem Stande abhängt! Sie kennen ſo wenig das
Weſen von dem, was ſie zu lieben vorgeben, daß ſie noch
nie gewußt haben, daß grade der Tugend Weſen in der Un-
abhängigkeit von gegebenen Umſtänden beſteht. Den Vor-
zug, ſittlich ſein zu müſſen, wollen ſie auch an ſich reißen;
und Pöbel, roher, in der höchſten Sphäre ſein! — Eine ſolche
Behauptung in Betreff einer Aktrice erfrechte ſich vorigen
Winter eine fremde Dame (Gott habe ſie ſelig, ſie iſt nun
todt) gegen mich, meiner Zuſtimmung gewiß, alſo faſt in
Prahlerei; daß ſie in ihrem ſelbſtangefachten Eifer vergaß,
daß ihre eigne Mutter Schauſpielerin war, was niemand hier
weiß, aber ich grade wußte. Die Arme; ehre-, ſchande- und
liebe- und tugendvergeſſene Dame. — Verſtocktes Lumpen-
volk, welches ſich unterſteht Chriſtus Namen zu läſtern: in-
dem es ihn ausſpricht! Möge Gott ſie erleuchten! und mir
verzeihen! fällt mir ein.
Schönes Wetter, nimm mich auf,
Bring mich in die Heimath!
Mach’ ein Ende meiner Qual,
Führe zu dem Tod mich hin;
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Du biſt Heimath, fühl’ ich wohl,
Laß mich hier nicht ſchmachten.
Athem, Seele machſt du frei;
Frei von Schlechtem, Laſten.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/432>, abgerufen am 29.11.2024.
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