mehr und mehr beschäftigt: und wenn ich sehr leide, ist es mein stillender Trost, zu denken, daß ich Mama nicht mehr geleistet, ihrem Zustand nicht einsah, und nun Strafe leide. Kein Gewissenleiden empfinde ich dabei: aber regrets! daß ich's nicht ändern kann. "Ach wer ruft nicht so gern Unwiederbring- liches an!" sagt Goethe in der Elegie Euphrosyne. Die Un- sern sind wohl.
Varnhagen grüßt euch! Und ich sage tausend Liebes an Karl. Was lest ihr? Ich, viel; und die Blätter alle Tage. Leset poesies detachees de Victor Hugo, les Orientales. Wer- den wir uns nicht sehen?
Rahel.
Einsicht macht uns Menschen zum Sklaven der Pflicht; wie zum Statthalter auf der Erde. Wir dürfen uns nicht da mit trösten: "Wollte es der liebe Gott anders haben, würde er's anders machen;" wir sollen es anders machen. Wir ha- ben Miteinsicht.
Mittwoch, den 17. Februar 1830.
Sonntag, den 28. Februar 1830.
Welch ein Wort sprechen die schamvergessenen Damen aus, wenn sie sagen: "Mich wundert nur, daß man davon so viel spricht! Wie kann von einer Aktrice ewig die Rede sein; ob sie ein Kind habe, ob sie keines habe!" Also ihre hochgepriesene Weibertugend, im Zielpunkt aller Sittlichkeit als Adler zum Treffen aufgestellt, gehört ihnen auch nur zu einem Vorrecht adlicher Damen? soll eine andre Art eleganter Aus- staffirung ihrer vornehmen Empfangszimmer sein; die ein
mehr und mehr beſchäftigt: und wenn ich ſehr leide, iſt es mein ſtillender Troſt, zu denken, daß ich Mama nicht mehr geleiſtet, ihrem Zuſtand nicht einſah, und nun Strafe leide. Kein Gewiſſenleiden empfinde ich dabei: aber regrets! daß ich’s nicht ändern kann. „Ach wer ruft nicht ſo gern Unwiederbring- liches an!“ ſagt Goethe in der Elegie Euphroſyne. Die Un- ſern ſind wohl.
Varnhagen grüßt euch! Und ich ſage tauſend Liebes an Karl. Was leſt ihr? Ich, viel; und die Blätter alle Tage. Leſet poésies détachées de Victor Hugo, les Orientales. Wer- den wir uns nicht ſehen?
Rahel.
Einſicht macht uns Menſchen zum Sklaven der Pflicht; wie zum Statthalter auf der Erde. Wir dürfen uns nicht da mit tröſten: „Wollte es der liebe Gott anders haben, würde er’s anders machen;“ wir ſollen es anders machen. Wir ha- ben Miteinſicht.
Mittwoch, den 17. Februar 1830.
Sonntag, den 28. Februar 1830.
Welch ein Wort ſprechen die ſchamvergeſſenen Damen aus, wenn ſie ſagen: „Mich wundert nur, daß man davon ſo viel ſpricht! Wie kann von einer Aktrice ewig die Rede ſein; ob ſie ein Kind habe, ob ſie keines habe!“ Alſo ihre hochgeprieſene Weibertugend, im Zielpunkt aller Sittlichkeit als Adler zum Treffen aufgeſtellt, gehört ihnen auch nur zu einem Vorrecht adlicher Damen? ſoll eine andre Art eleganter Aus- ſtaffirung ihrer vornehmen Empfangszimmer ſein; die ein
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mehr und mehr beſchäftigt: und wenn ich ſehr leide, iſt es
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Kein Gewiſſenleiden empfinde ich dabei: aber regrets! daß ich’s
nicht ändern kann. „Ach wer ruft nicht ſo gern Unwiederbring-
liches an!“ ſagt Goethe in der Elegie Euphroſyne. Die Un-
ſern ſind wohl.
Varnhagen grüßt euch! Und ich ſage tauſend Liebes an
Karl. Was leſt ihr? Ich, viel; und die Blätter alle Tage.
Leſet poésies détachées de Victor Hugo, les Orientales. Wer-
den wir uns nicht ſehen?
Rahel.
Einſicht macht uns Menſchen zum Sklaven der Pflicht;
wie zum Statthalter auf der Erde. Wir dürfen uns nicht
da mit tröſten: „Wollte es der liebe Gott anders haben, würde
er’s anders machen;“ wir ſollen es anders machen. Wir ha-
ben Miteinſicht.
Mittwoch, den 17. Februar 1830.
Sonntag, den 28. Februar 1830.
Welch ein Wort ſprechen die ſchamvergeſſenen Damen
aus, wenn ſie ſagen: „Mich wundert nur, daß man davon
ſo viel ſpricht! Wie kann von einer Aktrice ewig die Rede
ſein; ob ſie ein Kind habe, ob ſie keines habe!“ Alſo ihre
hochgeprieſene Weibertugend, im Zielpunkt aller Sittlichkeit
als Adler zum Treffen aufgeſtellt, gehört ihnen auch nur zu einem
Vorrecht adlicher Damen? ſoll eine andre Art eleganter Aus-
ſtaffirung ihrer vornehmen Empfangszimmer ſein; die ein
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/431>, abgerufen am 29.11.2024.
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