damit meine ich: der Ton jeder Note ist nicht so ausdrücklich süß, oder wohllautsvoll, als vielmehr, daß alle Noten ihrer Scala -- der seltenste Fall! -- ohne Exercitium, von Natur gleich gut, gleich stark sind. Keine Stimme, weder die Sprech- noch Singestimme darf anders, als al fresco gebraucht werden: wie bei dem Mahler das nachdrücklichste, noch so mühevollste Detail-Nüanziren nicht -- von weitem gesehen -- ausdrücken würde, was ein gut applizirter Farbenklecks thut. Spricht, singt, mahlt man für die Ferne nicht al fresco, so verschwendet man Stimme und Farben durchaus umsonst. Farben kauft man: Stimme muß blumenartig geschont und erhalten werden; sie geht sonst häßlich werdend verloren. Dies ist einer der Sätze, die in den Pepinieren der Bühnen als Re- gel feststehen sollten. Das junge Mädchen kann nicht stehn; nicht gehn; keinen Mantel, keinen Schleier; weiß nichts von Vornehm -- im besten Sinn. -- Schaden Sie ihr, und allen Publikums, nicht durch dies mein Urtheil: es geht mehr die Direktionen und die Publikums unserer Nation an, als die junge gute Schechner: sie bilden solche begabte Anfängerin nicht, weil sie all ihre Mängel gar nicht als solche empfinden, sondern meist einem Vorschreier nachschreien; der selbst wieder mit einigem Geschrei, in jedem Sinn, zufrieden gestellt ist; wenn's nicht gar durch eine Art von Wimmern, welches Ge- fühlvollheit vorstellt, bewirkt wird. Leben Sie wohl! Lassen Sie sich durch nichts in Ihrer Kunst, in der Kunst -- par ex- cellence; jede faßt alle in sich -- stören: so denk' ich auch, daß Riga, Memel, Mannheim, München, Berlin, jeder Ort,
damit meine ich: der Ton jeder Note iſt nicht ſo ausdrücklich ſüß, oder wohllautsvoll, als vielmehr, daß alle Noten ihrer Scala — der ſeltenſte Fall! — ohne Exercitium, von Natur gleich gut, gleich ſtark ſind. Keine Stimme, weder die Sprech- noch Singeſtimme darf anders, als al fresco gebraucht werden: wie bei dem Mahler das nachdrücklichſte, noch ſo mühevollſte Detail-Nüanziren nicht — von weitem geſehen — ausdrücken würde, was ein gut applizirter Farbenklecks thut. Spricht, ſingt, mahlt man für die Ferne nicht al fresco, ſo verſchwendet man Stimme und Farben durchaus umſonſt. Farben kauft man: Stimme muß blumenartig geſchont und erhalten werden; ſie geht ſonſt häßlich werdend verloren. Dies iſt einer der Sätze, die in den Pepinièren der Bühnen als Re- gel feſtſtehen ſollten. Das junge Mädchen kann nicht ſtehn; nicht gehn; keinen Mantel, keinen Schleier; weiß nichts von Vornehm — im beſten Sinn. — Schaden Sie ihr, und allen Publikums, nicht durch dies mein Urtheil: es geht mehr die Direktionen und die Publikums unſerer Nation an, als die junge gute Schechner: ſie bilden ſolche begabte Anfängerin nicht, weil ſie all ihre Mängel gar nicht als ſolche empfinden, ſondern meiſt einem Vorſchreier nachſchreien; der ſelbſt wieder mit einigem Geſchrei, in jedem Sinn, zufrieden geſtellt iſt; wenn’s nicht gar durch eine Art von Wimmern, welches Ge- fühlvollheit vorſtellt, bewirkt wird. Leben Sie wohl! Laſſen Sie ſich durch nichts in Ihrer Kunſt, in der Kunſt — par ex- cellence; jede faßt alle in ſich — ſtören: ſo denk’ ich auch, daß Riga, Memel, Mannheim, München, Berlin, jeder Ort,
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damit meine ich: der Ton jeder Note iſt nicht ſo ausdrücklich
ſüß, oder wohllautsvoll, als vielmehr, daß alle Noten ihrer
Scala — der ſeltenſte Fall! — ohne Exercitium, von Natur
gleich gut, gleich ſtark ſind. Keine Stimme, weder die
Sprech- noch Singeſtimme darf anders, als al fresco gebraucht
werden: wie bei dem Mahler das nachdrücklichſte, noch ſo
mühevollſte Detail-Nüanziren nicht — von weitem geſehen —
ausdrücken würde, was ein gut applizirter Farbenklecks thut.
Spricht, ſingt, mahlt man für die Ferne nicht al fresco, ſo
verſchwendet man Stimme und Farben durchaus umſonſt.
Farben kauft man: Stimme muß blumenartig geſchont und
erhalten werden; ſie geht ſonſt häßlich werdend verloren. Dies
iſt einer der Sätze, die in den Pepinièren der Bühnen als Re-
gel feſtſtehen ſollten. Das junge Mädchen kann nicht ſtehn;
nicht gehn; keinen Mantel, keinen Schleier; weiß nichts von
Vornehm — im beſten Sinn. — Schaden Sie ihr, und allen
Publikums, nicht durch dies mein Urtheil: es geht mehr die
Direktionen und die Publikums unſerer Nation an, als die
junge gute Schechner: ſie bilden ſolche begabte Anfängerin
nicht, weil ſie all ihre Mängel gar nicht als ſolche empfinden,
ſondern meiſt einem Vorſchreier nachſchreien; der ſelbſt wieder
mit einigem Geſchrei, in jedem Sinn, zufrieden geſtellt iſt;
wenn’s nicht gar durch eine Art von Wimmern, welches Ge-
fühlvollheit vorſtellt, bewirkt wird. Leben Sie wohl! Laſſen
Sie ſich durch nichts in Ihrer Kunſt, in der Kunſt — par ex-
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daß Riga, Memel, Mannheim, München, Berlin, jeder Ort,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/314>, abgerufen am 25.11.2024.
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