Untergang -- doch geschaut wird; von denen der Blick aber sich wenden kann; in Kunst und Göttersphäre. --
An Rose, im Haag.
Berlin, Freitag den 12. Januar 1827. 6 Uhr Abends.
Eben die Lampe angezündet. Nasses, schneriges Kothwetter. Bücklings-Jungen schreien. Sehr windig.
Vor Tische, 3 Uhr, schickte mir Moritz deinen Brief: es war höchste Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob du wohl krank seist, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor- enthalten wird! -- Gott gedankt! du bist wohl: und auch ge- faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden, Worte, bleibt dasselbe. Mein einziger Trost ist, daß ich ihm alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in meinen Kräften stand: das Opfer bestand, in dem Rest meiner wenigen Gesundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer Pflichterfüllung, sondern in der sichtbaren Sicherheit, ihn wirklich soulagirt, und ihm beigestanden zu haben. Mit Pflege aller Art, und Trost; und muthigem sowohl, als zärtlich- stem Betragen. Er, der nie demonstrativ war, und immer weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft: "treue Schwester; treue Seele!" das Äußerste! Ewig werde ich von seinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten befallen: sprach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent- schlafen. Alles, den ganzen Rest, mündlich! Physisch habe
Untergang — doch geſchaut wird; von denen der Blick aber ſich wenden kann; in Kunſt und Götterſphäre. —
An Roſe, im Haag.
Berlin, Freitag den 12. Januar 1827. 6 Uhr Abends.
Eben die Lampe angezündet. Naſſes, ſchneriges Kothwetter. Bücklings-Jungen ſchreien. Sehr windig.
Vor Tiſche, 3 Uhr, ſchickte mir Moritz deinen Brief: es war höchſte Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob du wohl krank ſeiſt, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor- enthalten wird! — Gott gedankt! du biſt wohl: und auch ge- faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden, Worte, bleibt daſſelbe. Mein einziger Troſt iſt, daß ich ihm alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in meinen Kräften ſtand: das Opfer beſtand, in dem Reſt meiner wenigen Geſundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer Pflichterfüllung, ſondern in der ſichtbaren Sicherheit, ihn wirklich ſoulagirt, und ihm beigeſtanden zu haben. Mit Pflege aller Art, und Troſt; und muthigem ſowohl, als zärtlich- ſtem Betragen. Er, der nie demonſtrativ war, und immer weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft: „treue Schweſter; treue Seele!“ das Äußerſte! Ewig werde ich von ſeinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten befallen: ſprach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent- ſchlafen. Alles, den ganzen Reſt, mündlich! Phyſiſch habe
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Untergang — doch geſchaut wird; von denen der Blick aber
ſich wenden kann; in Kunſt und Götterſphäre. —
An Roſe, im Haag.
Berlin, Freitag den 12. Januar 1827. 6 Uhr Abends.
Eben die Lampe angezündet. Naſſes, ſchneriges Kothwetter.
Bücklings-Jungen ſchreien. Sehr windig.
Vor Tiſche, 3 Uhr, ſchickte mir Moritz deinen Brief: es
war höchſte Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob
du wohl krank ſeiſt, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor-
enthalten wird! — Gott gedankt! du biſt wohl: und auch ge-
faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein
Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden,
Worte, bleibt daſſelbe. Mein einziger Troſt iſt, daß ich ihm
alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in
meinen Kräften ſtand: das Opfer beſtand, in dem Reſt meiner
wenigen Geſundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer
Pflichterfüllung, ſondern in der ſichtbaren Sicherheit, ihn
wirklich ſoulagirt, und ihm beigeſtanden zu haben. Mit Pflege
aller Art, und Troſt; und muthigem ſowohl, als zärtlich-
ſtem Betragen. Er, der nie demonſtrativ war, und immer
weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft:
„treue Schweſter; treue Seele!“ das Äußerſte! Ewig werde
ich von ſeinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen
edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/269>, abgerufen am 26.11.2024.
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