ich die Empfindung: als wäre ich eine Blume, eine Rose, und aus meiner Mitte ein Blatt gebrochen, und ein Stück des Mittelstücks: sie riecht, die Rose, sie ist roth; aber sie fühlt den Riß! So ist's wenn einem Geschwister vorangehen. Das wußt' ich nicht. Ich nenne es jetzt: Faserliebe. Es ist ein Geheimniß, welches wir von der Natur noch nicht wissen. Auch war er mein Spiel-Bruder: mit dem ich die Kindheit theilte; wirklich theilte. Damals war das so: wir mußten sie theilen; damit wir -- in gewisser Art untheilbar würden; und bei mir ist es gelungen. Du hast vielleicht überhaupt keine Vorstellung davon -- ich wußte es auch nicht -- wie ich seit mehreren Jahren für ihn sorgte; Vor- und Nachmit- tag; und meinen Tag zum Theil auf ihn bezog. Mir selbst unbewußt. Ihm gewiß. Er nahm beinah nichts freundlich auf: man wußte nie, merkt er's, hört er's, will er's, weiß er's. Aber ich liebt' ihn mehr, als ich's noch wußte! -- wenn ich ihn auch nicht immer approuvirte. Er betrug sich in der Krankheit herrlich! Muthvoll, anständig, duldungsvoll! was du willst! Ich küßte ihm oft die Hände, die Backen: ich rieb ihn. Alles! Ich schämte mich keiner Liebe. Ich war bei allen Bädern: zwölf; oder vierzehn; ich weiß nicht; noch den letzten Tag vor seinem Tod. Beneide mich doch nicht, lieb Röschen! Vielleicht hättest du's nicht ausgestanden; und Eine ist genug. Ich war grad hier. Gott wollte dies. Wie oft hatte ich mich sonst weggewünscht - - -. X. hat sich wie ein Gott betragen; und ihn beweint, und bejammert wie ich. Er schrieb auch hinter meinem Rücken Moritz. Kurz, sein Herz hat eine Umschaffung erlitten. Die Betrachtungen über
ich die Empfindung: als wäre ich eine Blume, eine Roſe, und aus meiner Mitte ein Blatt gebrochen, und ein Stück des Mittelſtücks: ſie riecht, die Roſe, ſie iſt roth; aber ſie fühlt den Riß! So iſt’s wenn einem Geſchwiſter vorangehen. Das wußt’ ich nicht. Ich nenne es jetzt: Faſerliebe. Es iſt ein Geheimniß, welches wir von der Natur noch nicht wiſſen. Auch war er mein Spiel-Bruder: mit dem ich die Kindheit theilte; wirklich theilte. Damals war das ſo: wir mußten ſie theilen; damit wir — in gewiſſer Art untheilbar würden; und bei mir iſt es gelungen. Du haſt vielleicht überhaupt keine Vorſtellung davon — ich wußte es auch nicht — wie ich ſeit mehreren Jahren für ihn ſorgte; Vor- und Nachmit- tag; und meinen Tag zum Theil auf ihn bezog. Mir ſelbſt unbewußt. Ihm gewiß. Er nahm beinah nichts freundlich auf: man wußte nie, merkt er’s, hört er’s, will er’s, weiß er’s. Aber ich liebt’ ihn mehr, als ich’s noch wußte! — wenn ich ihn auch nicht immer approuvirte. Er betrug ſich in der Krankheit herrlich! Muthvoll, anſtändig, duldungsvoll! was du willſt! Ich küßte ihm oft die Hände, die Backen: ich rieb ihn. Alles! Ich ſchämte mich keiner Liebe. Ich war bei allen Bädern: zwölf; oder vierzehn; ich weiß nicht; noch den letzten Tag vor ſeinem Tod. Beneide mich doch nicht, lieb Röschen! Vielleicht hätteſt du’s nicht ausgeſtanden; und Eine iſt genug. Ich war grad hier. Gott wollte dies. Wie oft hatte ich mich ſonſt weggewünſcht ‒ ‒ ‒. X. hat ſich wie ein Gott betragen; und ihn beweint, und bejammert wie ich. Er ſchrieb auch hinter meinem Rücken Moritz. Kurz, ſein Herz hat eine Umſchaffung erlitten. Die Betrachtungen über
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0270"n="262"/>
ich <hirendition="#g">die</hi> Empfindung: als wäre ich eine Blume, eine Roſe,<lb/>
und aus meiner Mitte ein Blatt gebrochen, und ein Stück<lb/>
des Mittelſtücks: ſie riecht, die Roſe, ſie iſt roth; <hirendition="#g">aber ſie</hi><lb/>
fühlt den Riß! So iſt’s wenn einem Geſchwiſter vorangehen.<lb/>
Das wußt’ ich nicht. Ich nenne es jetzt: Faſerliebe. Es iſt<lb/>
ein Geheimniß, welches wir von der Natur noch nicht wiſſen.<lb/>
Auch war er mein Spiel-Bruder: mit dem ich die Kindheit<lb/>
theilte; wirklich <hirendition="#g">theilte</hi>. Damals war das ſo: wir <hirendition="#g">mußten</hi><lb/>ſie theilen; damit wir — in gewiſſer Art untheilbar würden;<lb/>
und bei mir iſt es gelungen. Du haſt vielleicht überhaupt<lb/>
keine Vorſtellung davon — ich wußte es auch nicht — wie<lb/>
ich ſeit mehreren Jahren für ihn ſorgte; Vor- und Nachmit-<lb/>
tag; und meinen Tag zum Theil auf ihn bezog. Mir ſelbſt<lb/>
unbewußt. Ihm gewiß. Er nahm beinah nichts freundlich<lb/>
auf: man wußte nie, merkt er’s, hört er’s, will er’s, weiß er’s.<lb/>
Aber ich liebt’ ihn mehr, als ich’s noch wußte! — wenn ich<lb/>
ihn auch nicht immer approuvirte. Er betrug ſich in der<lb/>
Krankheit herrlich! Muthvoll, anſtändig, duldungsvoll! was<lb/>
du <hirendition="#g">willſt</hi>! Ich küßte ihm oft die Hände, die Backen: ich<lb/>
rieb ihn. Alles! Ich ſchämte mich <hirendition="#g">keiner</hi> Liebe. Ich war<lb/>
bei allen Bädern: zwölf; oder vierzehn; ich weiß nicht; noch<lb/>
den letzten Tag vor ſeinem Tod. Beneide mich <hirendition="#g">doch</hi> nicht,<lb/>
lieb Röschen! Vielleicht hätteſt du’s nicht ausgeſtanden; und<lb/>
Eine iſt genug. Ich war grad hier. Gott wollte dies. Wie<lb/>
oft hatte ich mich ſonſt weggewünſcht ‒‒‒. X. hat ſich wie<lb/>
ein Gott betragen; und ihn beweint, und bejammert wie ich.<lb/>
Er ſchrieb auch hinter meinem Rücken Moritz. Kurz, ſein<lb/><hirendition="#g">Herz</hi> hat eine Umſchaffung erlitten. Die Betrachtungen über<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[262/0270]
ich die Empfindung: als wäre ich eine Blume, eine Roſe,
und aus meiner Mitte ein Blatt gebrochen, und ein Stück
des Mittelſtücks: ſie riecht, die Roſe, ſie iſt roth; aber ſie
fühlt den Riß! So iſt’s wenn einem Geſchwiſter vorangehen.
Das wußt’ ich nicht. Ich nenne es jetzt: Faſerliebe. Es iſt
ein Geheimniß, welches wir von der Natur noch nicht wiſſen.
Auch war er mein Spiel-Bruder: mit dem ich die Kindheit
theilte; wirklich theilte. Damals war das ſo: wir mußten
ſie theilen; damit wir — in gewiſſer Art untheilbar würden;
und bei mir iſt es gelungen. Du haſt vielleicht überhaupt
keine Vorſtellung davon — ich wußte es auch nicht — wie
ich ſeit mehreren Jahren für ihn ſorgte; Vor- und Nachmit-
tag; und meinen Tag zum Theil auf ihn bezog. Mir ſelbſt
unbewußt. Ihm gewiß. Er nahm beinah nichts freundlich
auf: man wußte nie, merkt er’s, hört er’s, will er’s, weiß er’s.
Aber ich liebt’ ihn mehr, als ich’s noch wußte! — wenn ich
ihn auch nicht immer approuvirte. Er betrug ſich in der
Krankheit herrlich! Muthvoll, anſtändig, duldungsvoll! was
du willſt! Ich küßte ihm oft die Hände, die Backen: ich
rieb ihn. Alles! Ich ſchämte mich keiner Liebe. Ich war
bei allen Bädern: zwölf; oder vierzehn; ich weiß nicht; noch
den letzten Tag vor ſeinem Tod. Beneide mich doch nicht,
lieb Röschen! Vielleicht hätteſt du’s nicht ausgeſtanden; und
Eine iſt genug. Ich war grad hier. Gott wollte dies. Wie
oft hatte ich mich ſonſt weggewünſcht ‒ ‒ ‒. X. hat ſich wie
ein Gott betragen; und ihn beweint, und bejammert wie ich.
Er ſchrieb auch hinter meinem Rücken Moritz. Kurz, ſein
Herz hat eine Umſchaffung erlitten. Die Betrachtungen über
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/270>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.