reißt die besten Keime mit hin: muß sie verderben. Eine herrliche, sittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne- ten Lüge, und entdeckte und erhöbe sich dadurch nicht die ge- mordete Wahrheit, die gestreckt als vermeinte Leiche schon lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerseits mordet, um sich Platz zu schaffen! Höchste Tragödie! Wenn auch "Schicksal," "Vergeltung," "Nemesis" u. s. w. nicht ge- nannt werden, und kein Kostüm noch Alterthum herhalten und Respekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich- ter Negatives leistete: welche Leiden er uns ersparte; durch einfache, derbe, gute, geläuterte, fassende, wirkliche Prosa. Nichts Unnützes wird gesagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein lyrisches Zuckerwasser von leerer Luft zu hohen Wellen ge- peitscht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau- sendstenmal verkappt, und entstellt hin- und hergeschleppt, von einem treulosen Gedächtniß, welches der Dichter Werke nicht einen Augenblick vergessen kann; aber in keinem Au- genblick sich dieses Verfahrens erinnert! --
Donnerstag, den 8. Januar 1827.
Freitag, den 9. Januar 1827.
-- Lies die Calderon'sche Tochter der Luft! Ein duften- des, regelmäßiges Phantasiegebäude, von farbigen Edelsteinen in unendlicher Himmelsbläue von Goldsonnenstrahlen durch- woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg, Mord, List, Schwäche, Höhlen, Priester, Regierung, Ehrgeiz,
reißt die beſten Keime mit hin: muß ſie verderben. Eine herrliche, ſittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne- ten Lüge, und entdeckte und erhöbe ſich dadurch nicht die ge- mordete Wahrheit, die geſtreckt als vermeinte Leiche ſchon lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerſeits mordet, um ſich Platz zu ſchaffen! Höchſte Tragödie! Wenn auch „Schickſal,“ „Vergeltung,“ „Nemeſis“ u. ſ. w. nicht ge- nannt werden, und kein Koſtüm noch Alterthum herhalten und Reſpekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich- ter Negatives leiſtete: welche Leiden er uns erſparte; durch einfache, derbe, gute, geläuterte, faſſende, wirkliche Proſa. Nichts Unnützes wird geſagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein lyriſches Zuckerwaſſer von leerer Luft zu hohen Wellen ge- peitſcht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau- ſendſtenmal verkappt, und entſtellt hin- und hergeſchleppt, von einem treuloſen Gedächtniß, welches der Dichter Werke nicht einen Augenblick vergeſſen kann; aber in keinem Au- genblick ſich dieſes Verfahrens erinnert! —
Donnerstag, den 8. Januar 1827.
Freitag, den 9. Januar 1827.
— Lies die Calderon’ſche Tochter der Luft! Ein duften- des, regelmäßiges Phantaſiegebäude, von farbigen Edelſteinen in unendlicher Himmelsbläue von Goldſonnenſtrahlen durch- woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg, Mord, Liſt, Schwäche, Höhlen, Prieſter, Regierung, Ehrgeiz,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0268"n="260"/>
reißt die beſten Keime mit hin: muß ſie verderben. Eine<lb/>
herrliche, ſittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der<lb/>
Weltlüge! würde nicht <hirendition="#g">ein</hi> Zipfel verrückt von der geordne-<lb/>
ten Lüge, und entdeckte und erhöbe ſich dadurch nicht die ge-<lb/>
mordete Wahrheit, die geſtreckt als vermeinte Leiche ſchon<lb/>
lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerſeits<lb/>
mordet, um ſich Platz zu ſchaffen! Höchſte Tragödie! Wenn<lb/>
auch „Schickſal,“„Vergeltung,“„Nemeſis“ u. ſ. w. nicht ge-<lb/>
nannt werden, und kein Koſtüm noch Alterthum herhalten<lb/>
und Reſpekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich-<lb/>
ter Negatives leiſtete: welche Leiden er uns erſparte; durch<lb/>
einfache, derbe, gute, geläuterte, faſſende, wirkliche Proſa.<lb/>
Nichts Unnützes wird geſagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein<lb/>
lyriſches Zuckerwaſſer von leerer Luft zu hohen Wellen ge-<lb/>
peitſcht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau-<lb/>ſendſtenmal verkappt, und entſtellt hin- und hergeſchleppt,<lb/>
von einem <hirendition="#g">treuloſen</hi> Gedächtniß, welches der Dichter Werke<lb/>
nicht einen Augenblick <hirendition="#g">vergeſſen</hi> kann; aber in keinem Au-<lb/>
genblick ſich dieſes Verfahrens <hirendition="#g">erinnert</hi>! —</p><lb/><dateline><hirendition="#et">Donnerstag, den 8. Januar 1827.</hi></dateline></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Freitag, den 9. Januar 1827.</hi></dateline><lb/><p>— Lies die Calderon’ſche Tochter der Luft! Ein duften-<lb/>
des, regelmäßiges Phantaſiegebäude, von farbigen Edelſteinen<lb/>
in unendlicher Himmelsbläue von Goldſonnenſtrahlen durch-<lb/>
woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg,<lb/>
Mord, Liſt, Schwäche, Höhlen, Prieſter, Regierung, Ehrgeiz,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[260/0268]
reißt die beſten Keime mit hin: muß ſie verderben. Eine
herrliche, ſittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der
Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne-
ten Lüge, und entdeckte und erhöbe ſich dadurch nicht die ge-
mordete Wahrheit, die geſtreckt als vermeinte Leiche ſchon
lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerſeits
mordet, um ſich Platz zu ſchaffen! Höchſte Tragödie! Wenn
auch „Schickſal,“ „Vergeltung,“ „Nemeſis“ u. ſ. w. nicht ge-
nannt werden, und kein Koſtüm noch Alterthum herhalten
und Reſpekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich-
ter Negatives leiſtete: welche Leiden er uns erſparte; durch
einfache, derbe, gute, geläuterte, faſſende, wirkliche Proſa.
Nichts Unnützes wird geſagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein
lyriſches Zuckerwaſſer von leerer Luft zu hohen Wellen ge-
peitſcht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau-
ſendſtenmal verkappt, und entſtellt hin- und hergeſchleppt,
von einem treuloſen Gedächtniß, welches der Dichter Werke
nicht einen Augenblick vergeſſen kann; aber in keinem Au-
genblick ſich dieſes Verfahrens erinnert! —
Donnerstag, den 8. Januar 1827.
Freitag, den 9. Januar 1827.
— Lies die Calderon’ſche Tochter der Luft! Ein duften-
des, regelmäßiges Phantaſiegebäude, von farbigen Edelſteinen
in unendlicher Himmelsbläue von Goldſonnenſtrahlen durch-
woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg,
Mord, Liſt, Schwäche, Höhlen, Prieſter, Regierung, Ehrgeiz,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/268>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.