Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

"O, ich liebe alle Menschen; sie sind alle wie von meinem
Fleisch und Blut; so zuckt es mir, wenn einem von ihnen
was ist." Über ihre Schmerzen: "Ich verstehe sie nicht; aber
ein Andrer. Schmerz ist Gottes Geheimniß; der versteht ihn."
Ferner: "Könnte man sich nur recht zu Gott wenden, so
wär' einem gleich geholfen. Mit seiner Hand hebt der einen
heraus; ich habe sie schon an mir gefühlt, seine Hand. Aber
so recht, wie man kann und soll, sich so ganz mit dem
Auge an ihn ansaugen, das gelingt nicht immer, man will
und kann nicht immer stark genug." Und dann: "Höhere
Geister sehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott selbst
hört und sieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz
in mir; er ist nicht zu groß dazu." Später äußerte sie:
"Solche Krankheit, ich fühl' es, ist jedesmal eine Gnade. Es
wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl' es, zum Bessern, zur
Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde
thun."

Ich wollte noch vieles der Art festhalten und bewahren,
aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des
Gemüths der einzelnen Gegenstände nicht Meister bleiben.
Der innig süße und zugleich schauerlich kräftige Ton der
Stimme ergriff mehr noch als die Worte selbst, ihr ganzer
Inhalt lag schon in ihm. --




Beten ist ein sich Fassen, ein Zusammensammlen mit
anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen soll geschehn,

„O, ich liebe alle Menſchen; ſie ſind alle wie von meinem
Fleiſch und Blut; ſo zuckt es mir, wenn einem von ihnen
was iſt.“ Über ihre Schmerzen: „Ich verſtehe ſie nicht; aber
ein Andrer. Schmerz iſt Gottes Geheimniß; der verſteht ihn.“
Ferner: „Könnte man ſich nur recht zu Gott wenden, ſo
wär’ einem gleich geholfen. Mit ſeiner Hand hebt der einen
heraus; ich habe ſie ſchon an mir gefühlt, ſeine Hand. Aber
ſo recht, wie man kann und ſoll, ſich ſo ganz mit dem
Auge an ihn anſaugen, das gelingt nicht immer, man will
und kann nicht immer ſtark genug.“ Und dann: „Höhere
Geiſter ſehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott ſelbſt
hört und ſieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz
in mir; er iſt nicht zu groß dazu.“ Später äußerte ſie:
„Solche Krankheit, ich fühl’ es, iſt jedesmal eine Gnade. Es
wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl’ es, zum Beſſern, zur
Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde
thun.“

Ich wollte noch vieles der Art feſthalten und bewahren,
aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des
Gemüths der einzelnen Gegenſtände nicht Meiſter bleiben.
Der innig ſüße und zugleich ſchauerlich kräftige Ton der
Stimme ergriff mehr noch als die Worte ſelbſt, ihr ganzer
Inhalt lag ſchon in ihm. —




Beten iſt ein ſich Faſſen, ein Zuſammenſammlen mit
anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen ſoll geſchehn,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0213" n="205"/>
&#x201E;O, ich liebe alle Men&#x017F;chen; &#x017F;ie &#x017F;ind alle wie von meinem<lb/>
Flei&#x017F;ch und Blut; <hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> zuckt es mir, wenn einem von ihnen<lb/>
was i&#x017F;t.&#x201C; Über ihre Schmerzen: &#x201E;Ich ver&#x017F;tehe &#x017F;ie nicht; aber<lb/>
ein Andrer. Schmerz i&#x017F;t Gottes Geheimniß; der ver&#x017F;teht ihn.&#x201C;<lb/>
Ferner: &#x201E;Könnte man &#x017F;ich nur <hi rendition="#g">recht</hi> zu Gott wenden, &#x017F;o<lb/>
wär&#x2019; einem gleich geholfen. Mit &#x017F;einer <hi rendition="#g">Hand</hi> hebt der einen<lb/>
heraus; ich habe &#x017F;ie &#x017F;chon an mir gefühlt, &#x017F;eine Hand. Aber<lb/>
&#x017F;o <hi rendition="#g">recht</hi>, wie man kann und &#x017F;oll, &#x017F;ich &#x017F;o <hi rendition="#g">ganz</hi> mit dem<lb/>
Auge an ihn an&#x017F;augen, das gelingt nicht immer, man will<lb/>
und kann nicht immer &#x017F;tark genug.&#x201C; Und dann: &#x201E;Höhere<lb/>
Gei&#x017F;ter &#x017F;ehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
hört und &#x017F;ieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz<lb/>
in mir; er i&#x017F;t <hi rendition="#g">nicht</hi> zu groß dazu.&#x201C; Später äußerte &#x017F;ie:<lb/>
&#x201E;Solche Krankheit, ich fühl&#x2019; es, i&#x017F;t jedesmal eine Gnade. Es<lb/>
wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl&#x2019; es, zum Be&#x017F;&#x017F;ern, zur<lb/>
Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde<lb/>
thun.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Ich wollte noch vieles der Art fe&#x017F;thalten und bewahren,<lb/>
aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des<lb/>
Gemüths der einzelnen Gegen&#x017F;tände nicht Mei&#x017F;ter bleiben.<lb/>
Der innig &#x017F;üße und zugleich &#x017F;chauerlich kräftige Ton der<lb/>
Stimme ergriff mehr noch als die Worte &#x017F;elb&#x017F;t, ihr ganzer<lb/>
Inhalt lag &#x017F;chon in ihm. &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Montag, den 30. Mai 1825.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Beten i&#x017F;t ein &#x017F;ich Fa&#x017F;&#x017F;en, ein Zu&#x017F;ammen&#x017F;ammlen mit<lb/>
anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen &#x017F;oll ge&#x017F;chehn,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0213] „O, ich liebe alle Menſchen; ſie ſind alle wie von meinem Fleiſch und Blut; ſo zuckt es mir, wenn einem von ihnen was iſt.“ Über ihre Schmerzen: „Ich verſtehe ſie nicht; aber ein Andrer. Schmerz iſt Gottes Geheimniß; der verſteht ihn.“ Ferner: „Könnte man ſich nur recht zu Gott wenden, ſo wär’ einem gleich geholfen. Mit ſeiner Hand hebt der einen heraus; ich habe ſie ſchon an mir gefühlt, ſeine Hand. Aber ſo recht, wie man kann und ſoll, ſich ſo ganz mit dem Auge an ihn anſaugen, das gelingt nicht immer, man will und kann nicht immer ſtark genug.“ Und dann: „Höhere Geiſter ſehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott ſelbſt hört und ſieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz in mir; er iſt nicht zu groß dazu.“ Später äußerte ſie: „Solche Krankheit, ich fühl’ es, iſt jedesmal eine Gnade. Es wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl’ es, zum Beſſern, zur Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde thun.“ Ich wollte noch vieles der Art feſthalten und bewahren, aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des Gemüths der einzelnen Gegenſtände nicht Meiſter bleiben. Der innig ſüße und zugleich ſchauerlich kräftige Ton der Stimme ergriff mehr noch als die Worte ſelbſt, ihr ganzer Inhalt lag ſchon in ihm. — Montag, den 30. Mai 1825. Beten iſt ein ſich Faſſen, ein Zuſammenſammlen mit anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen ſoll geſchehn,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/213
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/213>, abgerufen am 25.11.2024.