traurigsten widrigsten Betrachtung in der Welt. Mir eine häufige Erscheinung, und höchst tragisch, vielfältig tragisch.
Sonntag, den 2. Januar 1820.
-- Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerste, nüchternste, gezwungenste Predigt: er selbst ergeben, sie auf Bibeltexte a la fortune du pot zu machen. Vorher Gesinge. Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Mensch umgefallen. Ich erschrocken: krank davon den ganzen Tag. -- Machiavelli's florentinische Geschichten erquicken mich etwas, weil sie mich stärken: es sind lauter faits, wie er's erzählt. Das hab' ich jetzt nöthig. -- Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig sind, zu wissen, daß es Personen giebt mit Gedanken wie sie, und im Zusammenhang mit ihren Gedanken wie sie. Sie sind stolz, daß sie nie närrisch sind. Das glaub' ich wohl! dazu gehören auch Mittel. --
Montag, den 3. Januar 1820.
Zu Hause bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud- wig Liman, und Andre. Das Gespräch über Thierseelen. Ohme sich sehr übernommen: in der Verwechslung unserer ethischen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie eingefallen, daß diese, wenn auch mit dem höchsten Bezug ausgestattete Fakultät doch kein Zweck an sich ist, nur eine Beziehung darstellt, und wie alle andere Stufen eine Anstalt bezeichnet; einfach scheint, und komplizirt ist, wie alle unsere Fähigkeiten; die insgesammt wieder nur zu einer werden können, und wie ich glaube, werden werden. Es ist sonder-
traurigſten widrigſten Betrachtung in der Welt. Mir eine häufige Erſcheinung, und höchſt tragiſch, vielfältig tragiſch.
Sonntag, den 2. Januar 1820.
— Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerſte, nüchternſte, gezwungenſte Predigt: er ſelbſt ergeben, ſie auf Bibeltexte à la fortune du pot zu machen. Vorher Geſinge. Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Menſch umgefallen. Ich erſchrocken: krank davon den ganzen Tag. — Machiavelli’s florentiniſche Geſchichten erquicken mich etwas, weil ſie mich ſtärken: es ſind lauter faits, wie er’s erzählt. Das hab’ ich jetzt nöthig. — Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig ſind, zu wiſſen, daß es Perſonen giebt mit Gedanken wie ſie, und im Zuſammenhang mit ihren Gedanken wie ſie. Sie ſind ſtolz, daß ſie nie närriſch ſind. Das glaub’ ich wohl! dazu gehören auch Mittel. —
Montag, den 3. Januar 1820.
Zu Hauſe bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud- wig Liman, und Andre. Das Geſpräch über Thierſeelen. Ohme ſich ſehr übernommen: in der Verwechslung unſerer ethiſchen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie eingefallen, daß dieſe, wenn auch mit dem höchſten Bezug ausgeſtattete Fakultät doch kein Zweck an ſich iſt, nur eine Beziehung darſtellt, und wie alle andere Stufen eine Anſtalt bezeichnet; einfach ſcheint, und komplizirt iſt, wie alle unſere Fähigkeiten; die insgeſammt wieder nur zu einer werden können, und wie ich glaube, werden werden. Es iſt ſonder-
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traurigſten widrigſten Betrachtung in der Welt. Mir eine
häufige Erſcheinung, und höchſt tragiſch, vielfältig tragiſch.
Sonntag, den 2. Januar 1820.
— Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerſte,
nüchternſte, gezwungenſte Predigt: er ſelbſt ergeben, ſie auf
Bibeltexte à la fortune du pot zu machen. Vorher Geſinge.
Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Menſch umgefallen. Ich
erſchrocken: krank davon den ganzen Tag. — Machiavelli’s
florentiniſche Geſchichten erquicken mich etwas, weil ſie mich
ſtärken: es ſind lauter faits, wie er’s erzählt. Das hab’ ich
jetzt nöthig. — Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig
ſind, zu wiſſen, daß es Perſonen giebt mit Gedanken wie ſie,
und im Zuſammenhang mit ihren Gedanken wie ſie. Sie ſind
ſtolz, daß ſie nie närriſch ſind. Das glaub’ ich wohl! dazu
gehören auch Mittel. —
Montag, den 3. Januar 1820.
Zu Hauſe bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud-
wig Liman, und Andre. Das Geſpräch über Thierſeelen.
Ohme ſich ſehr übernommen: in der Verwechslung unſerer
ethiſchen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie
eingefallen, daß dieſe, wenn auch mit dem höchſten Bezug
ausgeſtattete Fakultät doch kein Zweck an ſich iſt, nur eine
Beziehung darſtellt, und wie alle andere Stufen eine Anſtalt
bezeichnet; einfach ſcheint, und komplizirt iſt, wie alle unſere
Fähigkeiten; die insgeſammt wieder nur zu einer werden
können, und wie ich glaube, werden werden. Es iſt ſonder-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/10>, abgerufen am 24.11.2024.
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