Fr. von S --: gelebt, gelesen, geschliffen, klug, gehemmt, krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be- redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil- det. Der Grund dieser Natur gefällt meiner nicht. Sie ist zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenste Natur ausgebildet, wär's ein ganz anderes Mädchen: so sehen die Grundzüge ihres Gesichts aus, und ihre ganze Komplexion, die auch schon gelitten zu haben scheint. Nicht allein die größ- ten Glücksumstände gehören dazu, der Menschen eigenste An- lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: sondern, den meisten Menschen werden ganz faktice angebildet, und sie haben nicht so kräftige Eigenschaften, auch nicht Einmal ein paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder der Umstände zu widerstehen; sondern sie bleiben embryonisch monsterhaft mit den verkrüppelten, verwesten, sparsam gestreu- ten schwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der
III. 1
Aus einem Tagebuch.
Sonnabend, den 1. Januar 1820.
Fr. von S —: gelebt, geleſen, geſchliffen, klug, gehemmt, krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be- redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil- det. Der Grund dieſer Natur gefällt meiner nicht. Sie iſt zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenſte Natur ausgebildet, wär’s ein ganz anderes Mädchen: ſo ſehen die Grundzüge ihres Geſichts aus, und ihre ganze Komplexion, die auch ſchon gelitten zu haben ſcheint. Nicht allein die größ- ten Glücksumſtände gehören dazu, der Menſchen eigenſte An- lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: ſondern, den meiſten Menſchen werden ganz faktice angebildet, und ſie haben nicht ſo kräftige Eigenſchaften, auch nicht Einmal ein paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder der Umſtände zu widerſtehen; ſondern ſie bleiben embryoniſch monſterhaft mit den verkrüppelten, verweſten, ſparſam geſtreu- ten ſchwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der
III. 1
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[[1]/0009]
Aus einem Tagebuch.
Sonnabend, den 1. Januar 1820.
Fr. von S —: gelebt, geleſen, geſchliffen, klug, gehemmt,
krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be-
redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil-
det. Der Grund dieſer Natur gefällt meiner nicht. Sie iſt
zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich
in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenſte
Natur ausgebildet, wär’s ein ganz anderes Mädchen: ſo ſehen
die Grundzüge ihres Geſichts aus, und ihre ganze Komplexion,
die auch ſchon gelitten zu haben ſcheint. Nicht allein die größ-
ten Glücksumſtände gehören dazu, der Menſchen eigenſte An-
lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: ſondern,
den meiſten Menſchen werden ganz faktice angebildet, und ſie
haben nicht ſo kräftige Eigenſchaften, auch nicht Einmal ein
paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder
der Umſtände zu widerſtehen; ſondern ſie bleiben embryoniſch
monſterhaft mit den verkrüppelten, verweſten, ſparſam geſtreu-
ten ſchwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der
III. 1
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/9>, abgerufen am 24.11.2024.
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