Nach einer fürchterlichen, aber weichen Nacht; mit sehr bestürmtem, mißhandeltem Herzen. Meine unseligen Gedan- ken! Das hellere Wissen lief Sturm dagegen, und es war keine Gnade; sie ließen es nicht in Ruh. Um vier Uhr wacht' ich noch: und krank fühl' ich mein Herz noch jetzt. Wie sollte es auch kommen! Wer schmeichelt ihm wohl! Welcher Umstand; wer thut ihm gut! Vieles hat mir der Himmel in meiner Noth gelassen, diesen Strahl seiner allmächtigen Sonne hat er mir noch nie zukommen lassen! Soll ich wirklich so sterben? Wie ich verstehe ein Herz zu heilen, zu schonen! Man könnte dies anders nennen: still!
Eigentlich wollt' ich dies niederschreiben. Wie finde ich Goethe groß in den Worten, die der Prinz im Triumph der Empfindsamkeit sagt: "O ihr Götter! schickt mir ein neues un- bekanntes Glück aus den Weiten der Welt!" Wie schlagen diese wenigen Worte bis nach den zwei äußersten Enden des Menschen hin. Ganz zertrümmert ist das Gemüth des Prinzen; nichts da- von hat er sich vorbehalten; alles ehrlich eingesetzt; das Schick- sal konnte ihm, und nahm ihm, alles in der Puppe: ohne Herz, fühlt er -- nur dies kann er noch fühlen -- kann er nicht le- ben! Er hat keine Hoffnung; in der ganzen bekannten Welt ist ihm nichts geblieben, eine zu bilden; sein Inbegriff ist hin! Der Geist ist ihm noch übrig geblieben; mit dem hält er noch alles für möglich; eine neue Welt, die er nicht erfinden kann; mit diesem Geiste setzte er der Götter Macht voraus; sein Herz muß von ihrer Güte haben, weiter leben; und so fleht er sie im gefühlten Untergang an.
Berlin, den 2. December 1812.
Nach einer fürchterlichen, aber weichen Nacht; mit ſehr beſtürmtem, mißhandeltem Herzen. Meine unſeligen Gedan- ken! Das hellere Wiſſen lief Sturm dagegen, und es war keine Gnade; ſie ließen es nicht in Ruh. Um vier Uhr wacht’ ich noch: und krank fühl’ ich mein Herz noch jetzt. Wie ſollte es auch kommen! Wer ſchmeichelt ihm wohl! Welcher Umſtand; wer thut ihm gut! Vieles hat mir der Himmel in meiner Noth gelaſſen, dieſen Strahl ſeiner allmächtigen Sonne hat er mir noch nie zukommen laſſen! Soll ich wirklich ſo ſterben? Wie ich verſtehe ein Herz zu heilen, zu ſchonen! Man könnte dies anders nennen: ſtill!
Eigentlich wollt’ ich dies niederſchreiben. Wie finde ich Goethe groß in den Worten, die der Prinz im Triumph der Empfindſamkeit ſagt: „O ihr Götter! ſchickt mir ein neues un- bekanntes Glück aus den Weiten der Welt!“ Wie ſchlagen dieſe wenigen Worte bis nach den zwei äußerſten Enden des Menſchen hin. Ganz zertrümmert iſt das Gemüth des Prinzen; nichts da- von hat er ſich vorbehalten; alles ehrlich eingeſetzt; das Schick- ſal konnte ihm, und nahm ihm, alles in der Puppe: ohne Herz, fühlt er — nur dies kann er noch fühlen — kann er nicht le- ben! Er hat keine Hoffnung; in der ganzen bekannten Welt iſt ihm nichts geblieben, eine zu bilden; ſein Inbegriff iſt hin! Der Geiſt iſt ihm noch übrig geblieben; mit dem hält er noch alles für möglich; eine neue Welt, die er nicht erfinden kann; mit dieſem Geiſte ſetzte er der Götter Macht voraus; ſein Herz muß von ihrer Güte haben, weiter leben; und ſo fleht er ſie im gefühlten Untergang an.
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Berlin, den 2. December 1812.
Nach einer fürchterlichen, aber weichen Nacht; mit ſehr
beſtürmtem, mißhandeltem Herzen. Meine unſeligen Gedan-
ken! Das hellere Wiſſen lief Sturm dagegen, und es war
keine Gnade; ſie ließen es nicht in Ruh. Um vier Uhr wacht’
ich noch: und krank fühl’ ich mein Herz noch jetzt. Wie
ſollte es auch kommen! Wer ſchmeichelt ihm wohl! Welcher
Umſtand; wer thut ihm gut! Vieles hat mir der Himmel in
meiner Noth gelaſſen, dieſen Strahl ſeiner allmächtigen Sonne
hat er mir noch nie zukommen laſſen! Soll ich wirklich ſo
ſterben? Wie ich verſtehe ein Herz zu heilen, zu ſchonen!
Man könnte dies anders nennen: ſtill!
Eigentlich wollt’ ich dies niederſchreiben. Wie finde ich
Goethe groß in den Worten, die der Prinz im Triumph der
Empfindſamkeit ſagt: „O ihr Götter! ſchickt mir ein neues un-
bekanntes Glück aus den Weiten der Welt!“ Wie ſchlagen dieſe
wenigen Worte bis nach den zwei äußerſten Enden des Menſchen
hin. Ganz zertrümmert iſt das Gemüth des Prinzen; nichts da-
von hat er ſich vorbehalten; alles ehrlich eingeſetzt; das Schick-
ſal konnte ihm, und nahm ihm, alles in der Puppe: ohne Herz,
fühlt er — nur dies kann er noch fühlen — kann er nicht le-
ben! Er hat keine Hoffnung; in der ganzen bekannten Welt
iſt ihm nichts geblieben, eine zu bilden; ſein Inbegriff iſt hin!
Der Geiſt iſt ihm noch übrig geblieben; mit dem hält er noch
alles für möglich; eine neue Welt, die er nicht erfinden kann;
mit dieſem Geiſte ſetzte er der Götter Macht voraus; ſein Herz
muß von ihrer Güte haben, weiter leben; und ſo fleht er ſie im
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/74>, abgerufen am 22.11.2024.
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