Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Sonderbar ist's! Die Andern glauben auch Liebe beschrei-
ben zu können; und sind noch recht stolz darauf, wenn sie
sie, wie sie es neunen, nicht als Leidenschaft gefühlt haben:
sie meinen, dann ging es um so besser -- haben sie sich aus
Goethe's Definition eines Dichters im Meister herausstudirt.
-- Mit gestampften Lumpen, Galläpfeln und Gänsekielen hof-
fen sie herauszuwürfeln die furchtbar-großen und doch trö-
stenden Orakelsprüche, die aus dem Tempel nur kommen, den
die Natur sich selbst geschaffen hat, in dem Herzen der gelungen-
sten Menschen! Nie! ihr stolz glücklichen Wüstlinge, die ihr
noch immer ein Restchen für euch zurückbehaltet! Ihr Armen!
deren Sinn nichts ganz trifft. -- -- --

Novalis sagt: "die Liebe ist eine ewige Wiederholung."
Sie ist die größte Überzeugung, sage ich. Unüberwindlich ist
Auge, Ohr und Gefühl überzeugt; unüberwindlich unser Herz
von dem Gegenstande, den wir lieben; unüberwindlich der
Eindruck; und ist die Überzeugung zu überwinden, so lieben
wir nicht mehr. Daher lieben nur Menschen; hohe überzeu-
gungsfähige Geschöpfe. Mittheilen, beweisen, läßt sie sich
nicht. Jeder liebt allein, wie man allein betet.



Thekla ist ganz und gar nur die tragische Gurli. Beide
ohne Knochen, Muskeln und Mark; ganz ohne menschliche
Anatomie; so bewegen sie sich auch, wo gar keine menschlichen
Glieder sind. Mir aber zum Erstaunen mit dem Beifall des
ganzen deutschen Publikums! Eben fällt mir aber nach langen
Jahren Wunderns ein, daß sich die Leute eben daran ergötzen,
diese bei natürlicher Gliederung nicht hervorzubringenden Be-

5 *

Sonderbar iſt’s! Die Andern glauben auch Liebe beſchrei-
ben zu können; und ſind noch recht ſtolz darauf, wenn ſie
ſie, wie ſie es neunen, nicht als Leidenſchaft gefühlt haben:
ſie meinen, dann ging es um ſo beſſer — haben ſie ſich aus
Goethe’s Definition eines Dichters im Meiſter herausſtudirt.
— Mit geſtampften Lumpen, Galläpfeln und Gänſekielen hof-
fen ſie herauszuwürfeln die furchtbar-großen und doch trö-
ſtenden Orakelſprüche, die aus dem Tempel nur kommen, den
die Natur ſich ſelbſt geſchaffen hat, in dem Herzen der gelungen-
ſten Menſchen! Nie! ihr ſtolz glücklichen Wüſtlinge, die ihr
noch immer ein Reſtchen für euch zurückbehaltet! Ihr Armen!
deren Sinn nichts ganz trifft. — — —

Novalis ſagt: „die Liebe iſt eine ewige Wiederholung.“
Sie iſt die größte Überzeugung, ſage ich. Unüberwindlich iſt
Auge, Ohr und Gefühl überzeugt; unüberwindlich unſer Herz
von dem Gegenſtande, den wir lieben; unüberwindlich der
Eindruck; und iſt die Überzeugung zu überwinden, ſo lieben
wir nicht mehr. Daher lieben nur Menſchen; hohe überzeu-
gungsfähige Geſchöpfe. Mittheilen, beweiſen, läßt ſie ſich
nicht. Jeder liebt allein, wie man allein betet.



Thekla iſt ganz und gar nur die tragiſche Gurli. Beide
ohne Knochen, Muskeln und Mark; ganz ohne menſchliche
Anatomie; ſo bewegen ſie ſich auch, wo gar keine menſchlichen
Glieder ſind. Mir aber zum Erſtaunen mit dem Beifall des
ganzen deutſchen Publikums! Eben fällt mir aber nach langen
Jahren Wunderns ein, daß ſich die Leute eben daran ergötzen,
dieſe bei natürlicher Gliederung nicht hervorzubringenden Be-

5 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0075" n="67"/>
            <p>Sonderbar i&#x017F;t&#x2019;s! Die Andern glauben auch Liebe be&#x017F;chrei-<lb/>
ben zu können; und &#x017F;ind noch recht &#x017F;tolz darauf, wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ie, wie &#x017F;ie es neunen, nicht als Leiden&#x017F;chaft gefühlt haben:<lb/>
&#x017F;ie meinen, dann ging es um &#x017F;o be&#x017F;&#x017F;er &#x2014; haben &#x017F;ie &#x017F;ich aus<lb/>
Goethe&#x2019;s Definition eines Dichters im Mei&#x017F;ter heraus&#x017F;tudirt.<lb/>
&#x2014; Mit ge&#x017F;tampften Lumpen, Galläpfeln und Gän&#x017F;ekielen hof-<lb/>
fen &#x017F;ie herauszuwürfeln die furchtbar-großen und doch trö-<lb/>
&#x017F;tenden Orakel&#x017F;prüche, die aus dem Tempel nur kommen, den<lb/>
die Natur &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chaffen hat, in dem Herzen der gelungen-<lb/>
&#x017F;ten Men&#x017F;chen! Nie! ihr &#x017F;tolz glücklichen Wü&#x017F;tlinge, die ihr<lb/>
noch immer ein Re&#x017F;tchen für euch zurückbehaltet! Ihr Armen!<lb/>
deren Sinn nichts ganz trifft. &#x2014; &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
            <p>Novalis &#x017F;agt: &#x201E;die Liebe i&#x017F;t eine ewige Wiederholung.&#x201C;<lb/>
Sie i&#x017F;t die größte Überzeugung, &#x017F;age ich. Unüberwindlich i&#x017F;t<lb/>
Auge, Ohr und Gefühl überzeugt; unüberwindlich un&#x017F;er Herz<lb/>
von dem Gegen&#x017F;tande, den wir lieben; unüberwindlich der<lb/>
Eindruck; und i&#x017F;t die Überzeugung zu überwinden, &#x017F;o lieben<lb/>
wir nicht mehr. Daher lieben nur Men&#x017F;chen; hohe überzeu-<lb/>
gungsfähige Ge&#x017F;chöpfe. Mittheilen, bewei&#x017F;en, läßt &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nicht. Jeder liebt allein, wie man allein betet.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p>Thekla i&#x017F;t ganz und gar nur die tragi&#x017F;che Gurli. Beide<lb/>
ohne Knochen, Muskeln und Mark; ganz ohne men&#x017F;chliche<lb/>
Anatomie; &#x017F;o bewegen &#x017F;ie &#x017F;ich auch, wo gar keine men&#x017F;chlichen<lb/>
Glieder &#x017F;ind. Mir aber zum Er&#x017F;taunen mit dem Beifall des<lb/>
ganzen deut&#x017F;chen Publikums! Eben fällt mir aber nach langen<lb/>
Jahren Wunderns ein, daß &#x017F;ich die Leute eben daran ergötzen,<lb/>
die&#x017F;e bei natürlicher Gliederung nicht hervorzubringenden Be-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">5 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0075] Sonderbar iſt’s! Die Andern glauben auch Liebe beſchrei- ben zu können; und ſind noch recht ſtolz darauf, wenn ſie ſie, wie ſie es neunen, nicht als Leidenſchaft gefühlt haben: ſie meinen, dann ging es um ſo beſſer — haben ſie ſich aus Goethe’s Definition eines Dichters im Meiſter herausſtudirt. — Mit geſtampften Lumpen, Galläpfeln und Gänſekielen hof- fen ſie herauszuwürfeln die furchtbar-großen und doch trö- ſtenden Orakelſprüche, die aus dem Tempel nur kommen, den die Natur ſich ſelbſt geſchaffen hat, in dem Herzen der gelungen- ſten Menſchen! Nie! ihr ſtolz glücklichen Wüſtlinge, die ihr noch immer ein Reſtchen für euch zurückbehaltet! Ihr Armen! deren Sinn nichts ganz trifft. — — — Novalis ſagt: „die Liebe iſt eine ewige Wiederholung.“ Sie iſt die größte Überzeugung, ſage ich. Unüberwindlich iſt Auge, Ohr und Gefühl überzeugt; unüberwindlich unſer Herz von dem Gegenſtande, den wir lieben; unüberwindlich der Eindruck; und iſt die Überzeugung zu überwinden, ſo lieben wir nicht mehr. Daher lieben nur Menſchen; hohe überzeu- gungsfähige Geſchöpfe. Mittheilen, beweiſen, läßt ſie ſich nicht. Jeder liebt allein, wie man allein betet. Thekla iſt ganz und gar nur die tragiſche Gurli. Beide ohne Knochen, Muskeln und Mark; ganz ohne menſchliche Anatomie; ſo bewegen ſie ſich auch, wo gar keine menſchlichen Glieder ſind. Mir aber zum Erſtaunen mit dem Beifall des ganzen deutſchen Publikums! Eben fällt mir aber nach langen Jahren Wunderns ein, daß ſich die Leute eben daran ergötzen, dieſe bei natürlicher Gliederung nicht hervorzubringenden Be- 5 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/75
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/75>, abgerufen am 03.12.2024.