geschehen ist, ist mir zu verjährt." Zu lange muß nichts dauren, was nicht schön ist; je suis trop blasee sur ce qui me deplait. Unser Schicksal ist eigentlich nichts, als unser Karak- ter; unser Karakter, nichts, als das Resultat in aktivem und passivem Dasein, der Summe, und Mischung all unserer Eigen- schaften, und Gaben. Das sind wir -- am tiefsten genom- men -- selbst: und was ist daran zu ändern? oder vielmehr, wir selbst können grad daran nichts ändern. Der Zeitpunkt, in den wir nun mit unserer Persönlichkeit fallen, ist wieder ein fest gegebener; eine solche Mischung -- wenn Sie wollen -- im Größern. Deren, und unserer Person Aufeinanderwir- ken nennen wir Schicksal; dem, können wir wirklich nur zu- sehen, und unser Agitiren, ist nur ein illusorisches. Das Git- ter woran wir ewig mit dem Kopf stoßen, eben weil wir eine Aussicht hindurch haben; ein Witz der höheren Mächte, uns zur Entwickelung eines ethischen Daseins gegeben. So expli- zir' ich mir die Sache: und verstehe leicht und willig, die Er- klärungsart jedes Menschen, wenn er's nur ehrlich und gut meint; weil sie doch alle auf Eins, auf Unterwerfung in's Un- begreifliche, hinauslaufen; mit dem wir uns bei der verliehe- nen Begriff-Fähigkeit nicht begnügen können, und ohne sie, nicht Einmal etwas vom Unbegreiflichen wüßten. Sie auch, lieber Freund, schrieben mir in einer andern Tonart dasselbe; muß man nicht immer nach der Tiefe hin? Aber mit ihr al- lein kann ich nicht leben; wäre meine Seele weniger umfan- gen, getragen von einem Meer, einer Atmosphäre von Ruhe und Klarheit -- die ich nicht bin und nicht mache: die ich mir andern Orts erworben haben mag -- so müßt' ich sterben
geſchehen iſt, iſt mir zu verjährt.“ Zu lange muß nichts dauren, was nicht ſchön iſt; je suis trop blasée sur ce qui me déplait. Unſer Schickſal iſt eigentlich nichts, als unſer Karak- ter; unſer Karakter, nichts, als das Reſultat in aktivem und paſſivem Daſein, der Summe, und Miſchung all unſerer Eigen- ſchaften, und Gaben. Das ſind wir — am tiefſten genom- men — ſelbſt: und was iſt daran zu ändern? oder vielmehr, wir ſelbſt können grad daran nichts ändern. Der Zeitpunkt, in den wir nun mit unſerer Perſönlichkeit fallen, iſt wieder ein feſt gegebener; eine ſolche Miſchung — wenn Sie wollen — im Größern. Deren, und unſerer Perſon Aufeinanderwir- ken nennen wir Schickſal; dem, können wir wirklich nur zu- ſehen, und unſer Agitiren, iſt nur ein illuſoriſches. Das Git- ter woran wir ewig mit dem Kopf ſtoßen, eben weil wir eine Ausſicht hindurch haben; ein Witz der höheren Mächte, uns zur Entwickelung eines ethiſchen Daſeins gegeben. So expli- zir’ ich mir die Sache: und verſtehe leicht und willig, die Er- klärungsart jedes Menſchen, wenn er’s nur ehrlich und gut meint; weil ſie doch alle auf Eins, auf Unterwerfung in’s Un- begreifliche, hinauslaufen; mit dem wir uns bei der verliehe- nen Begriff-Fähigkeit nicht begnügen können, und ohne ſie, nicht Einmal etwas vom Unbegreiflichen wüßten. Sie auch, lieber Freund, ſchrieben mir in einer andern Tonart daſſelbe; muß man nicht immer nach der Tiefe hin? Aber mit ihr al- lein kann ich nicht leben; wäre meine Seele weniger umfan- gen, getragen von einem Meer, einer Atmoſphäre von Ruhe und Klarheit — die ich nicht bin und nicht mache: die ich mir andern Orts erworben haben mag — ſo müßt’ ich ſterben
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0436"n="428"/>
geſchehen iſt, iſt mir zu verjährt.“ Zu lange muß <hirendition="#g">nichts</hi><lb/>
dauren, was nicht ſchön iſt; <hirendition="#aq">je suis trop blasée sur ce qui me<lb/>
déplait.</hi> Unſer Schickſal iſt eigentlich nichts, als unſer Karak-<lb/>
ter; unſer Karakter, nichts, als das Reſultat in aktivem und<lb/>
paſſivem Daſein, der Summe, und Miſchung all unſerer Eigen-<lb/>ſchaften, und Gaben. Das ſind wir — am tiefſten genom-<lb/>
men —ſelbſt: und was iſt daran zu ändern? oder vielmehr,<lb/>
wir ſelbſt können grad daran nichts ändern. Der Zeitpunkt,<lb/>
in den wir nun mit unſerer Perſönlichkeit fallen, iſt wieder<lb/>
ein feſt gegebener; eine ſolche Miſchung — wenn Sie wollen<lb/>— im Größern. Deren, und unſerer Perſon Aufeinanderwir-<lb/>
ken nennen wir Schickſal; dem, können wir wirklich nur zu-<lb/>ſehen, und unſer Agitiren, iſt nur ein illuſoriſches. Das Git-<lb/>
ter woran wir ewig mit dem Kopf ſtoßen, eben weil wir eine<lb/>
Ausſicht hindurch haben; ein Witz der höheren Mächte, uns<lb/>
zur Entwickelung eines ethiſchen Daſeins gegeben. So expli-<lb/>
zir’ ich mir die Sache: und verſtehe leicht und willig, die Er-<lb/>
klärungsart jedes Menſchen, wenn er’s nur ehrlich und gut<lb/>
meint; weil ſie doch alle auf Eins, auf Unterwerfung in’s Un-<lb/>
begreifliche, hinauslaufen; mit dem wir uns bei der verliehe-<lb/>
nen Begriff-Fähigkeit nicht begnügen können, und ohne ſie,<lb/>
nicht Einmal etwas vom Unbegreiflichen wüßten. Sie auch,<lb/>
lieber Freund, ſchrieben mir in einer andern Tonart daſſelbe;<lb/>
muß man nicht immer nach der Tiefe hin? Aber mit ihr al-<lb/>
lein kann ich nicht leben; wäre meine Seele weniger umfan-<lb/>
gen, getragen von einem Meer, einer Atmoſphäre von Ruhe<lb/>
und Klarheit — die ich <hirendition="#g">nicht</hi> bin und <hirendition="#g">nicht</hi> mache: die ich<lb/>
mir andern Orts erworben haben mag —ſo müßt’ ich ſterben<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[428/0436]
geſchehen iſt, iſt mir zu verjährt.“ Zu lange muß nichts
dauren, was nicht ſchön iſt; je suis trop blasée sur ce qui me
déplait. Unſer Schickſal iſt eigentlich nichts, als unſer Karak-
ter; unſer Karakter, nichts, als das Reſultat in aktivem und
paſſivem Daſein, der Summe, und Miſchung all unſerer Eigen-
ſchaften, und Gaben. Das ſind wir — am tiefſten genom-
men — ſelbſt: und was iſt daran zu ändern? oder vielmehr,
wir ſelbſt können grad daran nichts ändern. Der Zeitpunkt,
in den wir nun mit unſerer Perſönlichkeit fallen, iſt wieder
ein feſt gegebener; eine ſolche Miſchung — wenn Sie wollen
— im Größern. Deren, und unſerer Perſon Aufeinanderwir-
ken nennen wir Schickſal; dem, können wir wirklich nur zu-
ſehen, und unſer Agitiren, iſt nur ein illuſoriſches. Das Git-
ter woran wir ewig mit dem Kopf ſtoßen, eben weil wir eine
Ausſicht hindurch haben; ein Witz der höheren Mächte, uns
zur Entwickelung eines ethiſchen Daſeins gegeben. So expli-
zir’ ich mir die Sache: und verſtehe leicht und willig, die Er-
klärungsart jedes Menſchen, wenn er’s nur ehrlich und gut
meint; weil ſie doch alle auf Eins, auf Unterwerfung in’s Un-
begreifliche, hinauslaufen; mit dem wir uns bei der verliehe-
nen Begriff-Fähigkeit nicht begnügen können, und ohne ſie,
nicht Einmal etwas vom Unbegreiflichen wüßten. Sie auch,
lieber Freund, ſchrieben mir in einer andern Tonart daſſelbe;
muß man nicht immer nach der Tiefe hin? Aber mit ihr al-
lein kann ich nicht leben; wäre meine Seele weniger umfan-
gen, getragen von einem Meer, einer Atmoſphäre von Ruhe
und Klarheit — die ich nicht bin und nicht mache: die ich
mir andern Orts erworben haben mag — ſo müßt’ ich ſterben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/436>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.