Angst und Schmach haben. Punktum. Mein einziger Trost war, den Ort, in dem ich dies litt, nicht Heimath nennen zu dürfen: denn geschieht einem dergleichen zu Hause, was soll man dann denken und sagen! -- Hannken! du kannst mir so selten schreiben, als du willst, ich bin zufrieden: ich werde schon schreiben was ich weiß. Ich war recht ärgerlich, daß ihr Alle so lange nicht geschrieben hattet, und freute mich doch ganz rasend über euren Brief vom 4. Juni, den ich gestern erhielt! Aber mir soll jedes verbittert werden: denn mit eu- rem Brief zugleich bekam ich einen von Willisen aus Tirle- mont; eine Post von Brüssel, wo ich wegen Wagenbruch ei- nen Tag lag: worin er mir Marwitz Tod für gewiß meldet. Eine Flintenkugel traf ihn den 11. Februar bei Montmirail grade vor der Stirn; er starb ohne Schmerz, schreibt er, wei- ter aber nichts. Nicht wo er begraben ist; nicht ob er dabei war. Recht ärgerlich! Er ist außer sich, und kann vor Weh nicht. Ich schweige. Ich kann mich über nichts mehr aus- drücken; z. B. wenn einer stirbt -- wie Marwitz -- so seh' ich nicht nur die Person, oder die Art ihres Todes, -- sondern den Tod: und mich schwindelt überhaupt: und ich weiß nicht, ob ich noch lebe: und Millionen ganz abstrakter, nicht für die Feder zu leistender Gedanken! Kurz, ich erschrak gestern so von neuem, daß ich ganz zerstört bin. Jeder Freund von Marwitz fühlt seinen Tod nach Maß seines eigenen Werthes, und der guten Eigenschaften, die da machten, daß er seine be- griff, und sah. Keiner kannte seine Lücken besser als ich: keiner war vielseitiger und intimer sein Freund. Genug, Gott
Angſt und Schmach haben. Punktum. Mein einziger Troſt war, den Ort, in dem ich dies litt, nicht Heimath nennen zu dürfen: denn geſchieht einem dergleichen zu Hauſe, was ſoll man dann denken und ſagen! — Hannken! du kannſt mir ſo ſelten ſchreiben, als du willſt, ich bin zufrieden: ich werde ſchon ſchreiben was ich weiß. Ich war recht ärgerlich, daß ihr Alle ſo lange nicht geſchrieben hattet, und freute mich doch ganz raſend über euren Brief vom 4. Juni, den ich geſtern erhielt! Aber mir ſoll jedes verbittert werden: denn mit eu- rem Brief zugleich bekam ich einen von Williſen aus Tirle- mont; eine Poſt von Brüſſel, wo ich wegen Wagenbruch ei- nen Tag lag: worin er mir Marwitz Tod für gewiß meldet. Eine Flintenkugel traf ihn den 11. Februar bei Montmirail grade vor der Stirn; er ſtarb ohne Schmerz, ſchreibt er, wei- ter aber nichts. Nicht wo er begraben iſt; nicht ob er dabei war. Recht ärgerlich! Er iſt außer ſich, und kann vor Weh nicht. Ich ſchweige. Ich kann mich über nichts mehr aus- drücken; z. B. wenn einer ſtirbt — wie Marwitz — ſo ſeh’ ich nicht nur die Perſon, oder die Art ihres Todes, — ſondern den Tod: und mich ſchwindelt überhaupt: und ich weiß nicht, ob ich noch lebe: und Millionen ganz abſtrakter, nicht für die Feder zu leiſtender Gedanken! Kurz, ich erſchrak geſtern ſo von neuem, daß ich ganz zerſtört bin. Jeder Freund von Marwitz fühlt ſeinen Tod nach Maß ſeines eigenen Werthes, und der guten Eigenſchaften, die da machten, daß er ſeine be- griff, und ſah. Keiner kannte ſeine Lücken beſſer als ich: keiner war vielſeitiger und intimer ſein Freund. Genug, Gott
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Angſt und Schmach haben. Punktum. Mein einziger Troſt
war, den Ort, in dem ich dies litt, nicht Heimath nennen zu
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man dann denken und ſagen! — Hannken! du kannſt mir ſo
ſelten ſchreiben, als du willſt, ich bin zufrieden: ich werde
ſchon ſchreiben was ich weiß. Ich war recht ärgerlich, daß
ihr Alle ſo lange nicht geſchrieben hattet, und freute mich doch
ganz raſend über euren Brief vom 4. Juni, den ich geſtern
erhielt! Aber mir ſoll jedes verbittert werden: denn mit eu-
rem Brief zugleich bekam ich einen von Williſen aus Tirle-
mont; eine Poſt von Brüſſel, wo ich wegen Wagenbruch ei-
nen Tag lag: worin er mir Marwitz Tod für gewiß meldet.
Eine Flintenkugel traf ihn den 11. Februar bei Montmirail
grade vor der Stirn; er ſtarb ohne Schmerz, ſchreibt er, wei-
ter aber nichts. Nicht wo er begraben iſt; nicht ob er dabei
war. Recht ärgerlich! Er iſt außer ſich, und kann vor Weh
nicht. Ich ſchweige. Ich kann mich über nichts mehr aus-
drücken; z. B. wenn einer ſtirbt — wie Marwitz — ſo ſeh’ ich
nicht nur die Perſon, oder die Art ihres Todes, — ſondern
den Tod: und mich ſchwindelt überhaupt: und ich weiß nicht,
ob ich noch lebe: und Millionen ganz abſtrakter, nicht für
die Feder zu leiſtender Gedanken! Kurz, ich erſchrak geſtern
ſo von neuem, daß ich ganz zerſtört bin. Jeder Freund von
Marwitz fühlt ſeinen Tod nach Maß ſeines eigenen Werthes,
und der guten Eigenſchaften, die da machten, daß er ſeine be-
griff, und ſah. Keiner kannte ſeine Lücken beſſer als ich:
keiner war vielſeitiger und intimer ſein Freund. Genug, Gott
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/230>, abgerufen am 24.11.2024.
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