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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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liebten Sohn leiden, und erlag nicht, sie stand am Kreuze!
Das hätte ich nicht gekonnt, so stark wäre ich nicht gewesen.
Verzeihe mir es Gott, ich bekenne es, wie schwach ich bin."

Am 5. März war in keiner Hinsicht eine Verschlimme-
rung merkbar; im Gegentheil, es zeigte sich auf Rücken und
Schultern ein Ausschlag, demjenigen ähnlich, durch den schon
in früheren Jahren ein gefahrvoller Zustand sich zum glück-
lichen Ausgange gewendet hatte. Wir konnten neue Hoffnung
fassen, der Arzt bezeigte seine große Zufriedenheit, Rahel lä-
chelte freundlich ob den guten Verheißungen, sie fand das Le-
ben wünschenswerth, und ohne die höheren Gedankenreihen,
in denen sie ergeben und getrost weilte, zu verlassen, wandte
sie von daher den Blick auch mit Liebe den nächsten Darbie-
tungen des Tages zu. Ein schöner Fliederbaum, den ihr im
vorigen Sommer die von ihr sehr geliebte Gräfin von Yorck
geschenkt hatte, trieb unerwartet in diesen Tagen junge Knos-
pen; man brachte ihn vor das Bette der Kranken, die ihn
tiefathmend und entzückt betrachtete, und das zarte Grün wie-
derholt küßte; das erste für sie und das letzte dieses neuen
Frühjahrs! Ihre Sanftmuth und Hingebung in diesen Tagen
war unaussprechlich. "Wir wollen einander alles verzeihen,"
sagte sie mehrmals, und: "Wir schleppen einander wechsel-
seitig mit, ihr mich, ich euch;" ferner: "Im Himmel sehen
wir uns Alle wieder." Als Dore einmal von ihr sprach, und
dabei die gewöhnliche Benennung "gnädige Frau" anwandte,
rief sie wohlbehaglich, und als ob sie sich von einer Last be-
freite: "Ach was! es hat sich aus gegnädigefraut! nennt mich

liebten Sohn leiden, und erlag nicht, ſie ſtand am Kreuze!
Das hätte ich nicht gekonnt, ſo ſtark wäre ich nicht geweſen.
Verzeihe mir es Gott, ich bekenne es, wie ſchwach ich bin.“

Am 5. März war in keiner Hinſicht eine Verſchlimme-
rung merkbar; im Gegentheil, es zeigte ſich auf Rücken und
Schultern ein Ausſchlag, demjenigen ähnlich, durch den ſchon
in früheren Jahren ein gefahrvoller Zuſtand ſich zum glück-
lichen Ausgange gewendet hatte. Wir konnten neue Hoffnung
faſſen, der Arzt bezeigte ſeine große Zufriedenheit, Rahel lä-
chelte freundlich ob den guten Verheißungen, ſie fand das Le-
ben wünſchenswerth, und ohne die höheren Gedankenreihen,
in denen ſie ergeben und getroſt weilte, zu verlaſſen, wandte
ſie von daher den Blick auch mit Liebe den nächſten Darbie-
tungen des Tages zu. Ein ſchöner Fliederbaum, den ihr im
vorigen Sommer die von ihr ſehr geliebte Gräfin von Yorck
geſchenkt hatte, trieb unerwartet in dieſen Tagen junge Knos-
pen; man brachte ihn vor das Bette der Kranken, die ihn
tiefathmend und entzückt betrachtete, und das zarte Grün wie-
derholt küßte; das erſte für ſie und das letzte dieſes neuen
Frühjahrs! Ihre Sanftmuth und Hingebung in dieſen Tagen
war unausſprechlich. „Wir wollen einander alles verzeihen,“
ſagte ſie mehrmals, und: „Wir ſchleppen einander wechſel-
ſeitig mit, ihr mich, ich euch;“ ferner: „Im Himmel ſehen
wir uns Alle wieder.“ Als Dore einmal von ihr ſprach, und
dabei die gewöhnliche Benennung „gnädige Frau“ anwandte,
rief ſie wohlbehaglich, und als ob ſie ſich von einer Laſt be-
freite: „Ach was! es hat ſich aus gegnädigefraut! nennt mich

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[44/0058] liebten Sohn leiden, und erlag nicht, ſie ſtand am Kreuze! Das hätte ich nicht gekonnt, ſo ſtark wäre ich nicht geweſen. Verzeihe mir es Gott, ich bekenne es, wie ſchwach ich bin.“ Am 5. März war in keiner Hinſicht eine Verſchlimme- rung merkbar; im Gegentheil, es zeigte ſich auf Rücken und Schultern ein Ausſchlag, demjenigen ähnlich, durch den ſchon in früheren Jahren ein gefahrvoller Zuſtand ſich zum glück- lichen Ausgange gewendet hatte. Wir konnten neue Hoffnung faſſen, der Arzt bezeigte ſeine große Zufriedenheit, Rahel lä- chelte freundlich ob den guten Verheißungen, ſie fand das Le- ben wünſchenswerth, und ohne die höheren Gedankenreihen, in denen ſie ergeben und getroſt weilte, zu verlaſſen, wandte ſie von daher den Blick auch mit Liebe den nächſten Darbie- tungen des Tages zu. Ein ſchöner Fliederbaum, den ihr im vorigen Sommer die von ihr ſehr geliebte Gräfin von Yorck geſchenkt hatte, trieb unerwartet in dieſen Tagen junge Knos- pen; man brachte ihn vor das Bette der Kranken, die ihn tiefathmend und entzückt betrachtete, und das zarte Grün wie- derholt küßte; das erſte für ſie und das letzte dieſes neuen Frühjahrs! Ihre Sanftmuth und Hingebung in dieſen Tagen war unausſprechlich. „Wir wollen einander alles verzeihen,“ ſagte ſie mehrmals, und: „Wir ſchleppen einander wechſel- ſeitig mit, ihr mich, ich euch;“ ferner: „Im Himmel ſehen wir uns Alle wieder.“ Als Dore einmal von ihr ſprach, und dabei die gewöhnliche Benennung „gnädige Frau“ anwandte, rief ſie wohlbehaglich, und als ob ſie ſich von einer Laſt be- freite: „Ach was! es hat ſich aus gegnädigefraut! nennt mich

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/58>, abgerufen am 03.10.2024.