zelnen zu wiederholen. Wir genossen in dieser trüben Zeit Stunden des reinsten Entzückens, der innigsten Verständigung, und fühlten die volle Gewißheit eines unzerstörbar begründe- ten, wechselseitigen Angehörens. Merkwürdig sind auch die folgenden Worte, die ich gleich am 2. März, unmittelbar und genau, wie sie von Rahel gesprochen waren, mir auf- schreiben mußte: "Welche Geschichte! -- rief sie mit tie- fer Bewegung aus, -- eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier, und finde Hülfe, Liebe und Pflege von euch! Dir, lieber August, war ich zugesandt, durch diese Führung Gottes, und du mir! Mit erhabenem Entzücken denk' ich an diesen meinen Ursprung und diesen ganzen Zu- sammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erin- nerungen des Menschengeschlechts mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht' ich das jetzt missen. Wird es mir nicht eben so mit diesen Krankheitsleiden gehen, werd' ich einst nicht eben so mich freudig an ihnen erheben, sie um kei- nen Preis missen wollen? O lieber August, welche tröstliche Einsicht, welch bedeutendes Gleichniß! Auf diesem Wege wol- len wir fortgehen!" Und darauf sagte sie unter vielen Thrä- nen: "Lieber August, mein Herz ist im Innersten erquickt; ich habe an Jesus gedacht, und über sein Leiden geweint; ich habe gefühlt, zum erstenmal es so gefühlt, daß er mein Bru- der ist. Und Maria, was hat die gelitten! Sie sah den ge-
zelnen zu wiederholen. Wir genoſſen in dieſer trüben Zeit Stunden des reinſten Entzückens, der innigſten Verſtändigung, und fühlten die volle Gewißheit eines unzerſtörbar begründe- ten, wechſelſeitigen Angehörens. Merkwürdig ſind auch die folgenden Worte, die ich gleich am 2. März, unmittelbar und genau, wie ſie von Rahel geſprochen waren, mir auf- ſchreiben mußte: „Welche Geſchichte! — rief ſie mit tie- fer Bewegung aus, — eine aus Ägypten und Paläſtina Geflüchtete bin ich hier, und finde Hülfe, Liebe und Pflege von euch! Dir, lieber Auguſt, war ich zugeſandt, durch dieſe Führung Gottes, und du mir! Mit erhabenem Entzücken denk’ ich an dieſen meinen Urſprung und dieſen ganzen Zu- ſammenhang des Geſchickes, durch welches die älteſten Erin- nerungen des Menſchengeſchlechts mit der neueſten Lage der Dinge, die weiteſten Zeit- und Raumfernen verbunden ſind. Was ſo lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbſte Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu ſein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt miſſen. Wird es mir nicht eben ſo mit dieſen Krankheitsleiden gehen, werd’ ich einſt nicht eben ſo mich freudig an ihnen erheben, ſie um kei- nen Preis miſſen wollen? O lieber Auguſt, welche tröſtliche Einſicht, welch bedeutendes Gleichniß! Auf dieſem Wege wol- len wir fortgehen!“ Und darauf ſagte ſie unter vielen Thrä- nen: „Lieber Auguſt, mein Herz iſt im Innerſten erquickt; ich habe an Jeſus gedacht, und über ſein Leiden geweint; ich habe gefühlt, zum erſtenmal es ſo gefühlt, daß er mein Bru- der iſt. Und Maria, was hat die gelitten! Sie ſah den ge-
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zelnen zu wiederholen. Wir genoſſen in dieſer trüben Zeit
Stunden des reinſten Entzückens, der innigſten Verſtändigung,
und fühlten die volle Gewißheit eines unzerſtörbar begründe-
ten, wechſelſeitigen Angehörens. Merkwürdig ſind auch die
folgenden Worte, die ich gleich am 2. März, unmittelbar
und genau, wie ſie von Rahel geſprochen waren, mir auf-
ſchreiben mußte: „Welche Geſchichte! — rief ſie mit tie-
fer Bewegung aus, — eine aus Ägypten und Paläſtina
Geflüchtete bin ich hier, und finde Hülfe, Liebe und Pflege
von euch! Dir, lieber Auguſt, war ich zugeſandt, durch dieſe
Führung Gottes, und du mir! Mit erhabenem Entzücken
denk’ ich an dieſen meinen Urſprung und dieſen ganzen Zu-
ſammenhang des Geſchickes, durch welches die älteſten Erin-
nerungen des Menſchengeſchlechts mit der neueſten Lage der
Dinge, die weiteſten Zeit- und Raumfernen verbunden ſind.
Was ſo lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach,
das herbſte Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu
ſein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt miſſen. Wird es
mir nicht eben ſo mit dieſen Krankheitsleiden gehen, werd’ ich
einſt nicht eben ſo mich freudig an ihnen erheben, ſie um kei-
nen Preis miſſen wollen? O lieber Auguſt, welche tröſtliche
Einſicht, welch bedeutendes Gleichniß! Auf dieſem Wege wol-
len wir fortgehen!“ Und darauf ſagte ſie unter vielen Thrä-
nen: „Lieber Auguſt, mein Herz iſt im Innerſten erquickt;
ich habe an Jeſus gedacht, und über ſein Leiden geweint; ich
habe gefühlt, zum erſtenmal es ſo gefühlt, daß er mein Bru-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/57>, abgerufen am 10.10.2024.
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