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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Mensch nicht mehr geliebt, gepflegt und abgewartet und mit
Sorge und Witz aufgewartet wurde, als diese reine Mutter!
Sie lebte zuletzt als reiche glückliche Frau. Starb in Roberts,
Markus, der Kousine und meiner Gegenwart; wir auf den
Knien betend. Sonnabend Nacht punkto 1 Uhr. Drei Stunden
vorher, schien's, hatte sie das Bewußtsein verloren. Ihre letzte
zusammenhängende Phrase war: "Robert soll schlafen gehen."
Er hatte gewacht. Das sagte sie um 5 Uhr. Freitag glaubte
sie noch an eine Reise nach Holland, die sie projektirte; und
die ich ihr zur Freude vormahlte: als ich vom Postillon und
Wald sprach, schnalzte sie mit der Zunge wie ein Kutscher:
uns zu ermuntern, und auch sich zu täuschen. Ich hielt ihr
noch todt die Hand: im Fall sie es fühle: ich war mit zum
Begräbniß, und ging nur von ihrer Seite als mir durch Erde
ihr Anblick entzogen war. Warum sollten Fremde, so lange
ihre Gestalt existirt, um sie sein, und nicht ihre wahre Wär-
terin und Freundin! Beneide uns nicht!!! ich fühle, du
wirst es: es ist ein nicht einzubildendes Weh, eine sanfte Mut-
ter lange sterben und leiden zu sehen: die Seele ist für immer
davon vergiftet; und deine regrets kompensiren sich mit die-
sem schneidenden Jammer. Glaube es! -- Sie nahm noch löffel-
weise Kaffee, Bouillon, und Wein, bis vier Stunden vor dem
Tod. Wir ließen sie das Sterben nicht moralisch empfinden;
und glauben sie getäuscht zu haben. Ich werde dir die Hälfte
von den Haaren schicken, die ich von der Wärterin abschnei-
den ließ, als sie noch warm war: und sonst ein Andenken
durch eine Sache die sie täglich brauchte. Ich habe ein Kopf-
zeug, ihren Sidur und eine Nadelbüchse genommen. Fasse

Menſch nicht mehr geliebt, gepflegt und abgewartet und mit
Sorge und Witz aufgewartet wurde, als dieſe reine Mutter!
Sie lebte zuletzt als reiche glückliche Frau. Starb in Roberts,
Markus, der Kouſine und meiner Gegenwart; wir auf den
Knien betend. Sonnabend Nacht punkto 1 Uhr. Drei Stunden
vorher, ſchien’s, hatte ſie das Bewußtſein verloren. Ihre letzte
zuſammenhängende Phraſe war: „Robert ſoll ſchlafen gehen.“
Er hatte gewacht. Das ſagte ſie um 5 Uhr. Freitag glaubte
ſie noch an eine Reiſe nach Holland, die ſie projektirte; und
die ich ihr zur Freude vormahlte: als ich vom Poſtillon und
Wald ſprach, ſchnalzte ſie mit der Zunge wie ein Kutſcher:
uns zu ermuntern, und auch ſich zu täuſchen. Ich hielt ihr
noch todt die Hand: im Fall ſie es fühle: ich war mit zum
Begräbniß, und ging nur von ihrer Seite als mir durch Erde
ihr Anblick entzogen war. Warum ſollten Fremde, ſo lange
ihre Geſtalt exiſtirt, um ſie ſein, und nicht ihre wahre Wär-
terin und Freundin! Beneide uns nicht!!! ich fühle, du
wirſt es: es iſt ein nicht einzubildendes Weh, eine ſanfte Mut-
ter lange ſterben und leiden zu ſehen: die Seele iſt für immer
davon vergiftet; und deine regrets kompenſiren ſich mit die-
ſem ſchneidenden Jammer. Glaube es! — Sie nahm noch löffel-
weiſe Kaffee, Bouillon, und Wein, bis vier Stunden vor dem
Tod. Wir ließen ſie das Sterben nicht moraliſch empfinden;
und glauben ſie getäuſcht zu haben. Ich werde dir die Hälfte
von den Haaren ſchicken, die ich von der Wärterin abſchnei-
den ließ, als ſie noch warm war: und ſonſt ein Andenken
durch eine Sache die ſie täglich brauchte. Ich habe ein Kopf-
zeug, ihren Sidur und eine Nadelbüchſe genommen. Faſſe

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[443/0457] Menſch nicht mehr geliebt, gepflegt und abgewartet und mit Sorge und Witz aufgewartet wurde, als dieſe reine Mutter! Sie lebte zuletzt als reiche glückliche Frau. Starb in Roberts, Markus, der Kouſine und meiner Gegenwart; wir auf den Knien betend. Sonnabend Nacht punkto 1 Uhr. Drei Stunden vorher, ſchien’s, hatte ſie das Bewußtſein verloren. Ihre letzte zuſammenhängende Phraſe war: „Robert ſoll ſchlafen gehen.“ Er hatte gewacht. Das ſagte ſie um 5 Uhr. Freitag glaubte ſie noch an eine Reiſe nach Holland, die ſie projektirte; und die ich ihr zur Freude vormahlte: als ich vom Poſtillon und Wald ſprach, ſchnalzte ſie mit der Zunge wie ein Kutſcher: uns zu ermuntern, und auch ſich zu täuſchen. Ich hielt ihr noch todt die Hand: im Fall ſie es fühle: ich war mit zum Begräbniß, und ging nur von ihrer Seite als mir durch Erde ihr Anblick entzogen war. Warum ſollten Fremde, ſo lange ihre Geſtalt exiſtirt, um ſie ſein, und nicht ihre wahre Wär- terin und Freundin! Beneide uns nicht!!! ich fühle, du wirſt es: es iſt ein nicht einzubildendes Weh, eine ſanfte Mut- ter lange ſterben und leiden zu ſehen: die Seele iſt für immer davon vergiftet; und deine regrets kompenſiren ſich mit die- ſem ſchneidenden Jammer. Glaube es! — Sie nahm noch löffel- weiſe Kaffee, Bouillon, und Wein, bis vier Stunden vor dem Tod. Wir ließen ſie das Sterben nicht moraliſch empfinden; und glauben ſie getäuſcht zu haben. Ich werde dir die Hälfte von den Haaren ſchicken, die ich von der Wärterin abſchnei- den ließ, als ſie noch warm war: und ſonſt ein Andenken durch eine Sache die ſie täglich brauchte. Ich habe ein Kopf- zeug, ihren Sidur und eine Nadelbüchſe genommen. Faſſe

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/457>, abgerufen am 11.06.2024.