Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

war ich noch vor zehn Minuten! wie ennuyirt! Noch soll ich
mich, nach allem, was ich wahrlich schon erlebt habe, in sol-
cher kleinen, niedren, ungewissen, nun gar einsamen, von Men-
schen und Künsten, und Natur geschiedenen Lage, herumbalgen.
Und all mein Muth, meine Klarheit, meine Gaben, sollen mir
zu nichts dienen können, als daß ich wie eine Verzweifelte --
Verlassene -- davongehen kann. Dies ist doch die trockene
Geographie meines Zustandes. So war es doch diesen ganzen
Winter -- gespickt mit tausend Kränkungen, Neckereien, Be-
leidigungen und Unsinnen, ohne Labe für Herz, Geist, Phan-
tasie (Hoffen durch Geist für Herz). Du weißt die drei guten
Sensationen, die ich vielleicht hatte; ich theilte sie dir ja mit!
-- als du noch nichts wählen konntest, und auch mich nicht
lassen konntest. Und können wir uns wohl gegenseitig durch
etwas helfen, als durch Liebe und frischen Herzensmuth?! O
und was ich sagen kann, und gesagt habe, ist das wenigste!
Die Reihe der Gedanken, die bei mir in der Zeit aufgeregt
wurden, der Ärger, der Verdruß, das Unbehagliche, das in
jedem Augenblick in meiner Lage mich anpickende, anpackende,
immer wiederkehrende, sich aus jedem Neuen neu erzeugende
Ungemach, auf Menschen-Seichtigkeit, Schlechtheit und Dumm-
heit zu meinem Wahnsinn gegründet; dies getrübte, gekränkte,
empörte, und gesunde nie ermüdete Herz! diese Stützenlosigkeit
nach jeder Seite! Auch du, Varnhagen, mißdeutest meine
Kraft. Ein siebzigfaches Leid, eine Äußerung davon ist sie!
Diese Woche habe ich erfunden, was ein Paradox ist. Eine
Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann sich darzustellen;
die gewaltsam in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung

hervor-

war ich noch vor zehn Minuten! wie ennuyirt! Noch ſoll ich
mich, nach allem, was ich wahrlich ſchon erlebt habe, in ſol-
cher kleinen, niedren, ungewiſſen, nun gar einſamen, von Men-
ſchen und Künſten, und Natur geſchiedenen Lage, herumbalgen.
Und all mein Muth, meine Klarheit, meine Gaben, ſollen mir
zu nichts dienen können, als daß ich wie eine Verzweifelte —
Verlaſſene — davongehen kann. Dies iſt doch die trockene
Geographie meines Zuſtandes. So war es doch dieſen ganzen
Winter — geſpickt mit tauſend Kränkungen, Neckereien, Be-
leidigungen und Unſinnen, ohne Labe für Herz, Geiſt, Phan-
taſie (Hoffen durch Geiſt für Herz). Du weißt die drei guten
Senſationen, die ich vielleicht hatte; ich theilte ſie dir ja mit!
— als du noch nichts wählen konnteſt, und auch mich nicht
laſſen konnteſt. Und können wir uns wohl gegenſeitig durch
etwas helfen, als durch Liebe und friſchen Herzensmuth?! O
und was ich ſagen kann, und geſagt habe, iſt das wenigſte!
Die Reihe der Gedanken, die bei mir in der Zeit aufgeregt
wurden, der Ärger, der Verdruß, das Unbehagliche, das in
jedem Augenblick in meiner Lage mich anpickende, anpackende,
immer wiederkehrende, ſich aus jedem Neuen neu erzeugende
Ungemach, auf Menſchen-Seichtigkeit, Schlechtheit und Dumm-
heit zu meinem Wahnſinn gegründet; dies getrübte, gekränkte,
empörte, und geſunde nie ermüdete Herz! dieſe Stützenloſigkeit
nach jeder Seite! Auch du, Varnhagen, mißdeuteſt meine
Kraft. Ein ſiebzigfaches Leid, eine Äußerung davon iſt ſie!
Dieſe Woche habe ich erfunden, was ein Paradox iſt. Eine
Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann ſich darzuſtellen;
die gewaltſam in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung

hervor-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0414" n="400"/>
war ich noch vor zehn Minuten! wie ennuyirt! Noch &#x017F;oll ich<lb/>
mich, nach allem, was ich wahrlich &#x017F;chon erlebt habe, in &#x017F;ol-<lb/>
cher kleinen, niedren, ungewi&#x017F;&#x017F;en, nun gar ein&#x017F;amen, von Men-<lb/>
&#x017F;chen und Kün&#x017F;ten, und Natur ge&#x017F;chiedenen Lage, herumbalgen.<lb/>
Und all mein Muth, meine Klarheit, meine Gaben, &#x017F;ollen mir<lb/>
zu nichts dienen können, als daß ich wie eine Verzweifelte &#x2014;<lb/>
Verla&#x017F;&#x017F;ene &#x2014; davongehen kann. Dies i&#x017F;t doch die trockene<lb/>
Geographie meines Zu&#x017F;tandes. So war es doch die&#x017F;en ganzen<lb/>
Winter &#x2014; ge&#x017F;pickt mit tau&#x017F;end Kränkungen, Neckereien, Be-<lb/>
leidigungen und Un&#x017F;innen, ohne Labe für Herz, Gei&#x017F;t, Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie (Hoffen durch Gei&#x017F;t für Herz). Du weißt die drei guten<lb/>
Sen&#x017F;ationen, die ich vielleicht hatte; ich theilte &#x017F;ie dir ja mit!<lb/>
&#x2014; als du noch nichts wählen konnte&#x017F;t, und auch mich nicht<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en konnte&#x017F;t. Und können wir uns wohl gegen&#x017F;eitig durch<lb/>
etwas helfen, als durch Liebe und fri&#x017F;chen Herzensmuth?! O<lb/>
und was ich &#x017F;agen kann, und ge&#x017F;agt habe, i&#x017F;t das wenig&#x017F;te!<lb/>
Die Reihe der Gedanken, die bei mir in der Zeit aufgeregt<lb/>
wurden, <hi rendition="#g">der</hi> Ärger, der Verdruß, das Unbehagliche, das in<lb/>
jedem Augenblick in meiner Lage mich anpickende, anpackende,<lb/>
immer wiederkehrende, &#x017F;ich aus jedem Neuen neu erzeugende<lb/>
Ungemach, auf Men&#x017F;chen-Seichtigkeit, Schlechtheit und Dumm-<lb/>
heit zu meinem Wahn&#x017F;inn gegründet; dies getrübte, gekränkte,<lb/>
empörte, und ge&#x017F;unde nie ermüdete Herz! die&#x017F;e Stützenlo&#x017F;igkeit<lb/>
nach <hi rendition="#g">jeder</hi> Seite! Auch du, Varnhagen, mißdeute&#x017F;t meine<lb/>
Kraft. Ein &#x017F;iebzigfaches Leid, eine Äußerung davon i&#x017F;t &#x017F;ie!<lb/>
Die&#x017F;e Woche habe ich erfunden, was ein Paradox i&#x017F;t. Eine<lb/>
Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann &#x017F;ich darzu&#x017F;tellen;<lb/>
die gewalt&#x017F;am in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hervor-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0414] war ich noch vor zehn Minuten! wie ennuyirt! Noch ſoll ich mich, nach allem, was ich wahrlich ſchon erlebt habe, in ſol- cher kleinen, niedren, ungewiſſen, nun gar einſamen, von Men- ſchen und Künſten, und Natur geſchiedenen Lage, herumbalgen. Und all mein Muth, meine Klarheit, meine Gaben, ſollen mir zu nichts dienen können, als daß ich wie eine Verzweifelte — Verlaſſene — davongehen kann. Dies iſt doch die trockene Geographie meines Zuſtandes. So war es doch dieſen ganzen Winter — geſpickt mit tauſend Kränkungen, Neckereien, Be- leidigungen und Unſinnen, ohne Labe für Herz, Geiſt, Phan- taſie (Hoffen durch Geiſt für Herz). Du weißt die drei guten Senſationen, die ich vielleicht hatte; ich theilte ſie dir ja mit! — als du noch nichts wählen konnteſt, und auch mich nicht laſſen konnteſt. Und können wir uns wohl gegenſeitig durch etwas helfen, als durch Liebe und friſchen Herzensmuth?! O und was ich ſagen kann, und geſagt habe, iſt das wenigſte! Die Reihe der Gedanken, die bei mir in der Zeit aufgeregt wurden, der Ärger, der Verdruß, das Unbehagliche, das in jedem Augenblick in meiner Lage mich anpickende, anpackende, immer wiederkehrende, ſich aus jedem Neuen neu erzeugende Ungemach, auf Menſchen-Seichtigkeit, Schlechtheit und Dumm- heit zu meinem Wahnſinn gegründet; dies getrübte, gekränkte, empörte, und geſunde nie ermüdete Herz! dieſe Stützenloſigkeit nach jeder Seite! Auch du, Varnhagen, mißdeuteſt meine Kraft. Ein ſiebzigfaches Leid, eine Äußerung davon iſt ſie! Dieſe Woche habe ich erfunden, was ein Paradox iſt. Eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann ſich darzuſtellen; die gewaltſam in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung hervor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/414
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/414>, abgerufen am 27.11.2024.