Akten mit Wohlthaten gespickt, daß Ledigbleiben keine Schande, und wohl gar schwerer sei, als Gattin zu sein: kurz, des Meisters und Parterre's würdig. Beim Herausgehen traf ich meine Schwägerin, die sagte mit englischer Naivetät, und in einem unnachahmlich resignirten Ton: "Wie immer bei Kotzebue, ganz schlecht, und man weint: er schämt sich gar nicht!" und wirklich, er schämte sich nicht, sich selbst und die abge- droschensten Präzepte zu wiederholen, und ganz ärgerlichma- chenden Edelmuth aufführen zu lassen. Auf Wiedersehn! Es dunkelt schon! So eben habe ich mit einem dicken, beinah roth-blonden Nachbarkind gegessen. Seit Neujahr hab' ich es in der Kost: (ich bedarf das Sieb der Geselligkeit: sonst wird mir jeder Genuß zu hart hinunter zu schlucken) die Leute sind arm. -- Es ist kein Brief von dir angekommen. Lebe wohl. Sei mir hold! Quäle dich nicht, und thue nach dei- nem Herzen! Ich will schlafen, und lesen. Ich bin jetzt recht gesund. Aber den März fürcht' ich ein wenig: mein Kranken- monat. Ich schreibe aber doch nun nur wenn ich Nachricht von dir habe: also du ängstigst dich nicht.
Deine Rahel.
An Varnhagen, in Tübingen.
Sonntag, gegen Mittag den 19. Februar 1809.
Da ich dir Dienstag noch nach Tübingen schreiben will, muß ich nur gleich anfangen, und kann nichts Besseres thun. O! lieber theurer Freund, dies war ein zu gräßlicher Winter und Herbst. Ein Leben voll Glück sollte damit nicht errungen werden müssen. Wie betrübt, geängstigt, gedrückt, verzweifelt
Akten mit Wohlthaten geſpickt, daß Ledigbleiben keine Schande, und wohl gar ſchwerer ſei, als Gattin zu ſein: kurz, des Meiſters und Parterre’s würdig. Beim Herausgehen traf ich meine Schwägerin, die ſagte mit engliſcher Naivetät, und in einem unnachahmlich reſignirten Ton: „Wie immer bei Kotzebue, ganz ſchlecht, und man weint: er ſchämt ſich gar nicht!“ und wirklich, er ſchämte ſich nicht, ſich ſelbſt und die abge- droſchenſten Präzepte zu wiederholen, und ganz ärgerlichma- chenden Edelmuth aufführen zu laſſen. Auf Wiederſehn! Es dunkelt ſchon! So eben habe ich mit einem dicken, beinah roth-blonden Nachbarkind gegeſſen. Seit Neujahr hab’ ich es in der Koſt: (ich bedarf das Sieb der Geſelligkeit: ſonſt wird mir jeder Genuß zu hart hinunter zu ſchlucken) die Leute ſind arm. — Es iſt kein Brief von dir angekommen. Lebe wohl. Sei mir hold! Quäle dich nicht, und thue nach dei- nem Herzen! Ich will ſchlafen, und leſen. Ich bin jetzt recht geſund. Aber den März fürcht’ ich ein wenig: mein Kranken- monat. Ich ſchreibe aber doch nun nur wenn ich Nachricht von dir habe: alſo du ängſtigſt dich nicht.
Deine Rahel.
An Varnhagen, in Tübingen.
Sonntag, gegen Mittag den 19. Februar 1809.
Da ich dir Dienstag noch nach Tübingen ſchreiben will, muß ich nur gleich anfangen, und kann nichts Beſſeres thun. O! lieber theurer Freund, dies war ein zu gräßlicher Winter und Herbſt. Ein Leben voll Glück ſollte damit nicht errungen werden müſſen. Wie betrübt, geängſtigt, gedrückt, verzweifelt
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Akten mit Wohlthaten geſpickt, daß Ledigbleiben keine Schande,
und wohl gar ſchwerer ſei, als Gattin zu ſein: kurz, des Meiſters
und Parterre’s würdig. Beim Herausgehen traf ich meine
Schwägerin, die ſagte mit engliſcher Naivetät, und in einem
unnachahmlich reſignirten Ton: „Wie immer bei Kotzebue,
ganz ſchlecht, und man weint: er ſchämt ſich gar nicht!“
und wirklich, er ſchämte ſich nicht, ſich ſelbſt und die abge-
droſchenſten Präzepte zu wiederholen, und ganz ärgerlichma-
chenden Edelmuth aufführen zu laſſen. Auf Wiederſehn!
Es dunkelt ſchon! So eben habe ich mit einem dicken, beinah
roth-blonden Nachbarkind gegeſſen. Seit Neujahr hab’ ich
es in der Koſt: (ich bedarf das Sieb der Geſelligkeit: ſonſt
wird mir jeder Genuß zu hart hinunter zu ſchlucken) die Leute
ſind arm. — Es iſt kein Brief von dir angekommen. Lebe
wohl. Sei mir hold! Quäle dich nicht, und thue nach dei-
nem Herzen! Ich will ſchlafen, und leſen. Ich bin jetzt recht
geſund. Aber den März fürcht’ ich ein wenig: mein Kranken-
monat. Ich ſchreibe aber doch nun nur wenn ich Nachricht
von dir habe: alſo du ängſtigſt dich nicht.
Deine Rahel.
An Varnhagen, in Tübingen.
Sonntag, gegen Mittag den 19. Februar 1809.
Da ich dir Dienstag noch nach Tübingen ſchreiben will,
muß ich nur gleich anfangen, und kann nichts Beſſeres thun.
O! lieber theurer Freund, dies war ein zu gräßlicher Winter
und Herbſt. Ein Leben voll Glück ſollte damit nicht errungen
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/413>, abgerufen am 28.11.2024.
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