dieses Gesprächs war der neuste Cotta'sche Damen¬ kalender, worin Goethe's "pilgernde Thörin" und Jean Pauls "Traum einer Wahnwitzigen" stehen. Es war noch kein Exemplar nach Baireuth gekommen, ich aber brachte von Dresden her eines mit, Jean Paul wünschte es zu behalten, und wies mir in Tübingen bei Cotta den Ersatz an. Solche Phantasieen, sagte er, wie jener Traum eine sei, könne er immerfort schreiben, die Stim¬ mung dazu, wenn er nur gesund sei, habe er ganz will¬ kürlich in seiner Gewalt, er setze sich an's Klavier, phan¬ tasiere da auf das wildeste, überlasse sich ganz dem augenblicklichen Gefühl, und schreibe dabei seine Bilder hin, freilich wohl nach einer gewissen vorbedachten Rich¬ tung, aber doch so frei, daß diese selbst oft verändert würde. Ganz eben solcher Stimmung folge er, fügte er hinzu, wenn er den Leibgeber oder Schoppe in der höchsten Begeisterung reden lasse, diese Figur sei dann ganz er selber. Noch erfüllt von den Bildern jenes Traumes, von der Riesenhaftigkeit der Gedanken, die hier hin und her geworfen werden, und die zu den größten und gehaltvollsten aller Mährchenpoesie gehören, mußte ich nur um so mehr erstaunen, als ich die un¬ erschöpfliche Fruchtbarkeit vernahm, mit welcher dem Dichter diese Gebilde zuwachsen. Er hatte sich in dieser Art einmal vorgenommen, eine "Hölle" zu schreiben, die kein Mensch sollte aushalten können, und vieles da¬ von ist wirklich fertig, jedoch nicht für den Druck be¬
dieſes Geſpraͤchs war der neuſte Cotta'ſche Damen¬ kalender, worin Goethe's „pilgernde Thoͤrin“ und Jean Pauls „Traum einer Wahnwitzigen“ ſtehen. Es war noch kein Exemplar nach Baireuth gekommen, ich aber brachte von Dresden her eines mit, Jean Paul wuͤnſchte es zu behalten, und wies mir in Tuͤbingen bei Cotta den Erſatz an. Solche Phantaſieen, ſagte er, wie jener Traum eine ſei, koͤnne er immerfort ſchreiben, die Stim¬ mung dazu, wenn er nur geſund ſei, habe er ganz will¬ kuͤrlich in ſeiner Gewalt, er ſetze ſich an's Klavier, phan¬ taſiere da auf das wildeſte, uͤberlaſſe ſich ganz dem augenblicklichen Gefuͤhl, und ſchreibe dabei ſeine Bilder hin, freilich wohl nach einer gewiſſen vorbedachten Rich¬ tung, aber doch ſo frei, daß dieſe ſelbſt oft veraͤndert wuͤrde. Ganz eben ſolcher Stimmung folge er, fuͤgte er hinzu, wenn er den Leibgeber oder Schoppe in der hoͤchſten Begeiſterung reden laſſe, dieſe Figur ſei dann ganz er ſelber. Noch erfuͤllt von den Bildern jenes Traumes, von der Rieſenhaftigkeit der Gedanken, die hier hin und her geworfen werden, und die zu den groͤßten und gehaltvollſten aller Maͤhrchenpoeſie gehoͤren, mußte ich nur um ſo mehr erſtaunen, als ich die un¬ erſchoͤpfliche Fruchtbarkeit vernahm, mit welcher dem Dichter dieſe Gebilde zuwachſen. Er hatte ſich in dieſer Art einmal vorgenommen, eine „Hoͤlle“ zu ſchreiben, die kein Menſch ſollte aushalten koͤnnen, und vieles da¬ von iſt wirklich fertig, jedoch nicht fuͤr den Druck be¬
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dieſes Geſpraͤchs war der neuſte Cotta'ſche Damen¬
kalender, worin Goethe's „pilgernde Thoͤrin“ und Jean
Pauls „Traum einer Wahnwitzigen“ ſtehen. Es war
noch kein Exemplar nach Baireuth gekommen, ich aber
brachte von Dresden her eines mit, Jean Paul wuͤnſchte
es zu behalten, und wies mir in Tuͤbingen bei Cotta
den Erſatz an. Solche Phantaſieen, ſagte er, wie jener
Traum eine ſei, koͤnne er immerfort ſchreiben, die Stim¬
mung dazu, wenn er nur geſund ſei, habe er ganz will¬
kuͤrlich in ſeiner Gewalt, er ſetze ſich an's Klavier, phan¬
taſiere da auf das wildeſte, uͤberlaſſe ſich ganz dem
augenblicklichen Gefuͤhl, und ſchreibe dabei ſeine Bilder
hin, freilich wohl nach einer gewiſſen vorbedachten Rich¬
tung, aber doch ſo frei, daß dieſe ſelbſt oft veraͤndert
wuͤrde. Ganz eben ſolcher Stimmung folge er, fuͤgte
er hinzu, wenn er den Leibgeber oder Schoppe in der
hoͤchſten Begeiſterung reden laſſe, dieſe Figur ſei dann
ganz er ſelber. Noch erfuͤllt von den Bildern jenes
Traumes, von der Rieſenhaftigkeit der Gedanken, die
hier hin und her geworfen werden, und die zu den
groͤßten und gehaltvollſten aller Maͤhrchenpoeſie gehoͤren,
mußte ich nur um ſo mehr erſtaunen, als ich die un¬
erſchoͤpfliche Fruchtbarkeit vernahm, mit welcher dem
Dichter dieſe Gebilde zuwachſen. Er hatte ſich in dieſer
Art einmal vorgenommen, eine „Hoͤlle“ zu ſchreiben,
die kein Menſch ſollte aushalten koͤnnen, und vieles da¬
von iſt wirklich fertig, jedoch nicht fuͤr den Druck be¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/84>, abgerufen am 27.11.2024.
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