Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

lange festhalten, und Goethe stürzt sich in sein eigent¬
liches dichterisches Element; wir sehen den Egmont aus
den Wogen emporsteigen, und zwar aus dem tiefsten
Grunde einer großen, erschütternden Betrachtung über
das Walten eines Dämonischen, das in Natur und
Geschichte sich offenbart. Was über die Erfordernisse
und die nähere Behandlung dieses großen dramatischen
Stoffes erläuternd gesagt wird, muß jeden nachdenken¬
den Leser willkommen anregen. Hier wird auch der
diesem Bändchen vorgesetzte Spruch: Nemo contra
deum nisi deus ipse
als der Sache angehörig ent¬
wickelt und aufgestellt.

Nun aber wird dieser vielfach erfüllte Zustand nicht
länger haltbar, die höchste Spannung drängt zu Ent¬
scheidungen, zu Entschlüssen. Was aufzugeben sei,
steht fest; wohin aber nun Sinn und Muth sich wenden
soll, darüber schwankt alles, und doch muß der nächste
Schritt die ganze Lebensfolge bestimmen. Die Neigung
ist für Weimar entschieden, wohin die dringendsten Ein¬
ladungen, die günstigsten Aussichten locken, vor denen
aber der Vater warnt, und bemüht ist, das herrliche
Bild Italiens vorzuschieben. Dieses Schwanken ver¬
längert sich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬
rechneter Zufälle, und setzt sich sogar in die genom¬
menen Entschlüsse hinein unangenehm fort, die Leiden¬
schaft sucht in dem Aufschub noch einigen Gewinn zu
fassen, der aber schon entrückt ist, und so erscheint

lange feſthalten, und Goethe ſtuͤrzt ſich in ſein eigent¬
liches dichteriſches Element; wir ſehen den Egmont aus
den Wogen emporſteigen, und zwar aus dem tiefſten
Grunde einer großen, erſchuͤtternden Betrachtung uͤber
das Walten eines Daͤmoniſchen, das in Natur und
Geſchichte ſich offenbart. Was uͤber die Erforderniſſe
und die naͤhere Behandlung dieſes großen dramatiſchen
Stoffes erlaͤuternd geſagt wird, muß jeden nachdenken¬
den Leſer willkommen anregen. Hier wird auch der
dieſem Baͤndchen vorgeſetzte Spruch: Nemo contra
deum nisi deus ipse
als der Sache angehoͤrig ent¬
wickelt und aufgeſtellt.

Nun aber wird dieſer vielfach erfuͤllte Zuſtand nicht
laͤnger haltbar, die hoͤchſte Spannung draͤngt zu Ent¬
ſcheidungen, zu Entſchluͤſſen. Was aufzugeben ſei,
ſteht feſt; wohin aber nun Sinn und Muth ſich wenden
ſoll, daruͤber ſchwankt alles, und doch muß der naͤchſte
Schritt die ganze Lebensfolge beſtimmen. Die Neigung
iſt fuͤr Weimar entſchieden, wohin die dringendſten Ein¬
ladungen, die guͤnſtigſten Ausſichten locken, vor denen
aber der Vater warnt, und bemuͤht iſt, das herrliche
Bild Italiens vorzuſchieben. Dieſes Schwanken ver¬
laͤngert ſich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬
rechneter Zufaͤlle, und ſetzt ſich ſogar in die genom¬
menen Entſchluͤſſe hinein unangenehm fort, die Leiden¬
ſchaft ſucht in dem Aufſchub noch einigen Gewinn zu
faſſen, der aber ſchon entruͤckt iſt, und ſo erſcheint

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0343" n="329"/>
lange fe&#x017F;thalten, und Goethe &#x017F;tu&#x0364;rzt &#x017F;ich in &#x017F;ein eigent¬<lb/>
liches dichteri&#x017F;ches Element; wir &#x017F;ehen den Egmont aus<lb/>
den Wogen empor&#x017F;teigen, und zwar aus dem tief&#x017F;ten<lb/>
Grunde einer großen, er&#x017F;chu&#x0364;tternden Betrachtung u&#x0364;ber<lb/>
das Walten eines Da&#x0364;moni&#x017F;chen, das in Natur und<lb/>
Ge&#x017F;chichte &#x017F;ich offenbart. Was u&#x0364;ber die Erforderni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
und die na&#x0364;here Behandlung die&#x017F;es großen dramati&#x017F;chen<lb/>
Stoffes erla&#x0364;uternd ge&#x017F;agt wird, muß jeden nachdenken¬<lb/>
den Le&#x017F;er willkommen anregen. Hier wird auch der<lb/>
die&#x017F;em Ba&#x0364;ndchen vorge&#x017F;etzte Spruch: <hi rendition="#aq">Nemo contra<lb/>
deum nisi deus ipse</hi> als der Sache angeho&#x0364;rig ent¬<lb/>
wickelt und aufge&#x017F;tellt.</p><lb/>
          <p>Nun aber wird die&#x017F;er vielfach erfu&#x0364;llte Zu&#x017F;tand nicht<lb/>
la&#x0364;nger haltbar, die ho&#x0364;ch&#x017F;te Spannung dra&#x0364;ngt zu Ent¬<lb/>
&#x017F;cheidungen, zu Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Was aufzugeben &#x017F;ei,<lb/>
&#x017F;teht fe&#x017F;t; wohin aber nun Sinn und Muth &#x017F;ich wenden<lb/>
&#x017F;oll, daru&#x0364;ber &#x017F;chwankt alles, und doch muß der na&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Schritt die ganze Lebensfolge be&#x017F;timmen. Die Neigung<lb/>
i&#x017F;t fu&#x0364;r Weimar ent&#x017F;chieden, wohin die dringend&#x017F;ten Ein¬<lb/>
ladungen, die gu&#x0364;n&#x017F;tig&#x017F;ten Aus&#x017F;ichten locken, vor denen<lb/>
aber der Vater warnt, und bemu&#x0364;ht i&#x017F;t, das herrliche<lb/>
Bild Italiens vorzu&#x017F;chieben. Die&#x017F;es Schwanken ver¬<lb/>
la&#x0364;ngert &#x017F;ich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬<lb/>
rechneter Zufa&#x0364;lle, und &#x017F;etzt &#x017F;ich &#x017F;ogar in die genom¬<lb/>
menen Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e hinein unangenehm fort, die Leiden¬<lb/>
&#x017F;chaft &#x017F;ucht in dem Auf&#x017F;chub noch einigen Gewinn zu<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en, der aber &#x017F;chon entru&#x0364;ckt i&#x017F;t, und &#x017F;o er&#x017F;cheint<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0343] lange feſthalten, und Goethe ſtuͤrzt ſich in ſein eigent¬ liches dichteriſches Element; wir ſehen den Egmont aus den Wogen emporſteigen, und zwar aus dem tiefſten Grunde einer großen, erſchuͤtternden Betrachtung uͤber das Walten eines Daͤmoniſchen, das in Natur und Geſchichte ſich offenbart. Was uͤber die Erforderniſſe und die naͤhere Behandlung dieſes großen dramatiſchen Stoffes erlaͤuternd geſagt wird, muß jeden nachdenken¬ den Leſer willkommen anregen. Hier wird auch der dieſem Baͤndchen vorgeſetzte Spruch: Nemo contra deum nisi deus ipse als der Sache angehoͤrig ent¬ wickelt und aufgeſtellt. Nun aber wird dieſer vielfach erfuͤllte Zuſtand nicht laͤnger haltbar, die hoͤchſte Spannung draͤngt zu Ent¬ ſcheidungen, zu Entſchluͤſſen. Was aufzugeben ſei, ſteht feſt; wohin aber nun Sinn und Muth ſich wenden ſoll, daruͤber ſchwankt alles, und doch muß der naͤchſte Schritt die ganze Lebensfolge beſtimmen. Die Neigung iſt fuͤr Weimar entſchieden, wohin die dringendſten Ein¬ ladungen, die guͤnſtigſten Ausſichten locken, vor denen aber der Vater warnt, und bemuͤht iſt, das herrliche Bild Italiens vorzuſchieben. Dieſes Schwanken ver¬ laͤngert ſich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬ rechneter Zufaͤlle, und ſetzt ſich ſogar in die genom¬ menen Entſchluͤſſe hinein unangenehm fort, die Leiden¬ ſchaft ſucht in dem Aufſchub noch einigen Gewinn zu faſſen, der aber ſchon entruͤckt iſt, und ſo erſcheint

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/343
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/343>, abgerufen am 11.05.2024.