Alle praktischen Aerzte befinden sich entweder durch Kärg¬ lichkeit der Natur, oder durch Gewohnheit und Nothwendigkeit, oder durch die Nichtswürdigkeit ihres Karakters in einem der drei besagten Fälle, und die wenigen edeln, welche nur ge¬ zwungen und vermöge der Ueberzeugung, daß es besser ist, irgend ein ehrbares Handwerk, als gar keins zu treiben, auf der un¬ wissend gewählten Laufbahn fortgehn, gestehn unter vier Augen mit Kummer ihre Bedrängniß. -- Von allen vier Klassen hab' ich kennen gelernt! --
Gesetzt aber auch, die obigen Bemerkungen wären nicht wahr, gesetzt, die praktische Arzneikunst wär' eine festgegründete Wissenschaft, so würde die Nützlichkeit derselben dennoch nur gering sein, indem die hitzigen Krankheiten sich meistens von selbst kuriren, und indem die langwierigen ihren Grund fast immer in physischen, moralischen und bürgerlichen Verhältnissen haben, die abzuändern außer der Gewalt des Arztes liegt! --
Alle diese Vorwürfe treffen indeß nur die innere Heilkunde vorzüglich; in der Wundarzneikunst ist mehr Gewisses, ihr Nutzen ist mehr außer Zweifel; aber theils würde die Ausübung der¬ selben immer empörend für mein Gefühl sein, theils erfordert sie eine lange Uebung, die ich nicht Gelegenheit gehabt habe mir zu verschaffen.
Auch weiß ich wohl, daß trotz der Ungewißheit der Heil¬ kunde im Ganzen dennoch die Kurart von einigen wenigen Uebeln ziemlich sicher ist. Aber die Anzahl derselben ist so äußerst gering, daß zuverlässig unter hundert verschriebenen Rezepten keine acht sind, deren Zweckmäßigkeit, bei einer gewissenhaften und voll¬ ständigen Untersuchung, beweisbar wäre. Und wie gering, wie kümmerlich ist diese Genugthuung für ein so mühsames und trau¬ riges Leben, als das eines praktischen Arztes, wenn er ein füh¬ lendes Herz hat!
Alle praktiſchen Aerzte befinden ſich entweder durch Kaͤrg¬ lichkeit der Natur, oder durch Gewohnheit und Nothwendigkeit, oder durch die Nichtswuͤrdigkeit ihres Karakters in einem der drei beſagten Faͤlle, und die wenigen edeln, welche nur ge¬ zwungen und vermoͤge der Ueberzeugung, daß es beſſer iſt, irgend ein ehrbares Handwerk, als gar keins zu treiben, auf der un¬ wiſſend gewaͤhlten Laufbahn fortgehn, geſtehn unter vier Augen mit Kummer ihre Bedraͤngniß. — Von allen vier Klaſſen hab' ich kennen gelernt! —
Geſetzt aber auch, die obigen Bemerkungen waͤren nicht wahr, geſetzt, die praktiſche Arzneikunſt waͤr' eine feſtgegruͤndete Wiſſenſchaft, ſo wuͤrde die Nuͤtzlichkeit derſelben dennoch nur gering ſein, indem die hitzigen Krankheiten ſich meiſtens von ſelbſt kuriren, und indem die langwierigen ihren Grund faſt immer in phyſiſchen, moraliſchen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen haben, die abzuaͤndern außer der Gewalt des Arztes liegt! —
Alle dieſe Vorwuͤrfe treffen indeß nur die innere Heilkunde vorzuͤglich; in der Wundarzneikunſt iſt mehr Gewiſſes, ihr Nutzen iſt mehr außer Zweifel; aber theils wuͤrde die Ausuͤbung der¬ ſelben immer empoͤrend fuͤr mein Gefuͤhl ſein, theils erfordert ſie eine lange Uebung, die ich nicht Gelegenheit gehabt habe mir zu verſchaffen.
Auch weiß ich wohl, daß trotz der Ungewißheit der Heil¬ kunde im Ganzen dennoch die Kurart von einigen wenigen Uebeln ziemlich ſicher iſt. Aber die Anzahl derſelben iſt ſo aͤußerſt gering, daß zuverlaͤſſig unter hundert verſchriebenen Rezepten keine acht ſind, deren Zweckmaͤßigkeit, bei einer gewiſſenhaften und voll¬ ſtaͤndigen Unterſuchung, beweisbar waͤre. Und wie gering, wie kuͤmmerlich iſt dieſe Genugthuung fuͤr ein ſo muͤhſames und trau¬ riges Leben, als das eines praktiſchen Arztes, wenn er ein fuͤh¬ lendes Herz hat!
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Alle praktiſchen Aerzte befinden ſich entweder durch Kaͤrg¬
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oder durch die Nichtswuͤrdigkeit ihres Karakters in einem der
drei beſagten Faͤlle, und die wenigen edeln, welche nur ge¬
zwungen und vermoͤge der Ueberzeugung, daß es beſſer iſt, irgend
ein ehrbares Handwerk, als gar keins zu treiben, auf der un¬
wiſſend gewaͤhlten Laufbahn fortgehn, geſtehn unter vier Augen
mit Kummer ihre Bedraͤngniß. — Von allen vier Klaſſen hab'
ich kennen gelernt! —
Geſetzt aber auch, die obigen Bemerkungen waͤren nicht
wahr, geſetzt, die praktiſche Arzneikunſt waͤr' eine feſtgegruͤndete
Wiſſenſchaft, ſo wuͤrde die Nuͤtzlichkeit derſelben dennoch nur
gering ſein, indem die hitzigen Krankheiten ſich meiſtens von
ſelbſt kuriren, und indem die langwierigen ihren Grund faſt
immer in phyſiſchen, moraliſchen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen
haben, die abzuaͤndern außer der Gewalt des Arztes liegt! —
Alle dieſe Vorwuͤrfe treffen indeß nur die innere Heilkunde
vorzuͤglich; in der Wundarzneikunſt iſt mehr Gewiſſes, ihr Nutzen
iſt mehr außer Zweifel; aber theils wuͤrde die Ausuͤbung der¬
ſelben immer empoͤrend fuͤr mein Gefuͤhl ſein, theils erfordert ſie
eine lange Uebung, die ich nicht Gelegenheit gehabt habe mir zu
verſchaffen.
Auch weiß ich wohl, daß trotz der Ungewißheit der Heil¬
kunde im Ganzen dennoch die Kurart von einigen wenigen Uebeln
ziemlich ſicher iſt. Aber die Anzahl derſelben iſt ſo aͤußerſt gering,
daß zuverlaͤſſig unter hundert verſchriebenen Rezepten keine acht
ſind, deren Zweckmaͤßigkeit, bei einer gewiſſenhaften und voll¬
ſtaͤndigen Unterſuchung, beweisbar waͤre. Und wie gering, wie
kuͤmmerlich iſt dieſe Genugthuung fuͤr ein ſo muͤhſames und trau¬
riges Leben, als das eines praktiſchen Arztes, wenn er ein fuͤh¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/70>, abgerufen am 23.11.2024.
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