Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

wordene große Bekanntschaft, Ruf und Glück mir eine hinläng¬
liche Praxis verschafft haben würden, um davon anständig leben
zu können; theils war die Liebe zu meinem Fach, durch nähere
Bekanntschaft damit, schon seit geraumer Zeit beträchtlich er¬
kaltet. -- Die Arzneikunst hat wirklich keine festen Prinzipien,
und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die
groben Theile unsers Körpers, aber nicht die feinere Struktur
desselben kennen, nicht die innern bewegenden Kräfte, nicht die
Art und Weise, wie die Zerrüttungen in ihnen entstehen, weil
wir eben so wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer
nächsten Wirkungen erforschen können, und weil es nicht möglich
ist, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die
ungeheure Menge der nicht in Anschlag zu bringenden mitwir¬
kenden Umstände und Zufälle die vorsichtigsten Schlüsse der besten
Logik schwankend und unzuverlässig macht. Die Erfahrung be¬
weiset dies Raisonnement! -- Glauben Sie mir auf mein Wort,
liebe Frau Base, in demselben Falle, wo man in Deutschland
purgirt, läßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und
China in England. Letzteres in Deutschland thun, hieße tödten,
und dort werden die Leute gesund davon, und würden es höchst
wahrscheinlich noch besser, wenn sie gar nichts nähmen. So
viele gescheidte, weise Leute haben seit zweitausend Jahren ge¬
dacht, geforscht und geschrieben, und dennoch lacht noch immer
der von heute über den von gestern, und nicht einmal über die
Behandlung eines einfachen Fiebers ist man in's Reine! -- Um
in der Laufbahn eines praktischen Arztes glücklich zu sein, muß
man entweder keinen Verstand haben, oder seinen Verstand
gefangen nehmen, und gläubig werden an Ein System, oder
roh genug sein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn,
das Geld in den Beutel streichen, und in's Fäustchen lachen zu
können.

wordene große Bekanntſchaft, Ruf und Gluͤck mir eine hinlaͤng¬
liche Praxis verſchafft haben wuͤrden, um davon anſtaͤndig leben
zu koͤnnen; theils war die Liebe zu meinem Fach, durch naͤhere
Bekanntſchaft damit, ſchon ſeit geraumer Zeit betraͤchtlich er¬
kaltet. — Die Arzneikunſt hat wirklich keine feſten Prinzipien,
und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die
groben Theile unſers Koͤrpers, aber nicht die feinere Struktur
deſſelben kennen, nicht die innern bewegenden Kraͤfte, nicht die
Art und Weiſe, wie die Zerruͤttungen in ihnen entſtehen, weil
wir eben ſo wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer
naͤchſten Wirkungen erforſchen koͤnnen, und weil es nicht moͤglich
iſt, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die
ungeheure Menge der nicht in Anſchlag zu bringenden mitwir¬
kenden Umſtaͤnde und Zufaͤlle die vorſichtigſten Schluͤſſe der beſten
Logik ſchwankend und unzuverlaͤſſig macht. Die Erfahrung be¬
weiſet dies Raiſonnement! — Glauben Sie mir auf mein Wort,
liebe Frau Baſe, in demſelben Falle, wo man in Deutſchland
purgirt, laͤßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und
China in England. Letzteres in Deutſchland thun, hieße toͤdten,
und dort werden die Leute geſund davon, und wuͤrden es hoͤchſt
wahrſcheinlich noch beſſer, wenn ſie gar nichts naͤhmen. So
viele geſcheidte, weiſe Leute haben ſeit zweitauſend Jahren ge¬
dacht, geforſcht und geſchrieben, und dennoch lacht noch immer
der von heute uͤber den von geſtern, und nicht einmal uͤber die
Behandlung eines einfachen Fiebers iſt man in’s Reine! — Um
in der Laufbahn eines praktiſchen Arztes gluͤcklich zu ſein, muß
man entweder keinen Verſtand haben, oder ſeinen Verſtand
gefangen nehmen, und glaͤubig werden an Ein Syſtem, oder
roh genug ſein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn,
das Geld in den Beutel ſtreichen, und in’s Faͤuſtchen lachen zu
koͤnnen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0069" n="55"/>
wordene große Bekannt&#x017F;chaft, Ruf und Glu&#x0364;ck mir eine hinla&#x0364;ng¬<lb/>
liche Praxis ver&#x017F;chafft haben wu&#x0364;rden, um davon an&#x017F;ta&#x0364;ndig leben<lb/>
zu ko&#x0364;nnen; <hi rendition="#g">theils</hi> war die Liebe zu meinem Fach, durch na&#x0364;here<lb/>
Bekannt&#x017F;chaft damit, &#x017F;chon &#x017F;eit geraumer Zeit betra&#x0364;chtlich er¬<lb/>
kaltet. &#x2014; Die Arzneikun&#x017F;t hat wirklich keine fe&#x017F;ten Prinzipien,<lb/>
und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die<lb/>
groben Theile un&#x017F;ers Ko&#x0364;rpers, aber nicht die feinere Struktur<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben kennen, nicht die innern bewegenden Kra&#x0364;fte, nicht die<lb/>
Art und Wei&#x017F;e, wie die Zerru&#x0364;ttungen in ihnen ent&#x017F;tehen, weil<lb/>
wir eben &#x017F;o wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten Wirkungen erfor&#x017F;chen ko&#x0364;nnen, und weil es nicht mo&#x0364;glich<lb/>
i&#x017F;t, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die<lb/><choice><sic>nngeheure</sic><corr>ungeheure</corr></choice> Menge der nicht in An&#x017F;chlag zu bringenden mitwir¬<lb/>
kenden Um&#x017F;ta&#x0364;nde und Zufa&#x0364;lle die vor&#x017F;ichtig&#x017F;ten Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e der be&#x017F;ten<lb/>
Logik &#x017F;chwankend und unzuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig macht. Die Erfahrung be¬<lb/>
wei&#x017F;et dies Rai&#x017F;onnement! &#x2014; Glauben Sie mir auf mein Wort,<lb/>
liebe Frau Ba&#x017F;e, in dem&#x017F;elben Falle, wo man in Deut&#x017F;chland<lb/>
purgirt, la&#x0364;ßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und<lb/>
China in England. Letzteres in Deut&#x017F;chland thun, hieße to&#x0364;dten,<lb/>
und dort werden die Leute ge&#x017F;und davon, und wu&#x0364;rden es ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich noch be&#x017F;&#x017F;er, wenn &#x017F;ie gar nichts na&#x0364;hmen. So<lb/>
viele ge&#x017F;cheidte, wei&#x017F;e Leute haben &#x017F;eit zweitau&#x017F;end Jahren ge¬<lb/>
dacht, gefor&#x017F;cht und ge&#x017F;chrieben, und dennoch lacht noch immer<lb/><hi rendition="#g">der</hi> von heute u&#x0364;ber <hi rendition="#g">den</hi> von ge&#x017F;tern, und nicht einmal u&#x0364;ber die<lb/>
Behandlung eines einfachen Fiebers i&#x017F;t man in&#x2019;s Reine! &#x2014; Um<lb/>
in der Laufbahn eines prakti&#x017F;chen Arztes glu&#x0364;cklich zu &#x017F;ein, muß<lb/>
man entweder keinen Ver&#x017F;tand haben, oder &#x017F;einen Ver&#x017F;tand<lb/>
gefangen nehmen, und gla&#x0364;ubig werden an <hi rendition="#g">Ein</hi> Sy&#x017F;tem, oder<lb/>
roh genug &#x017F;ein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn,<lb/>
das Geld in den Beutel &#x017F;treichen, und in&#x2019;s Fa&#x0364;u&#x017F;tchen lachen zu<lb/>
ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0069] wordene große Bekanntſchaft, Ruf und Gluͤck mir eine hinlaͤng¬ liche Praxis verſchafft haben wuͤrden, um davon anſtaͤndig leben zu koͤnnen; theils war die Liebe zu meinem Fach, durch naͤhere Bekanntſchaft damit, ſchon ſeit geraumer Zeit betraͤchtlich er¬ kaltet. — Die Arzneikunſt hat wirklich keine feſten Prinzipien, und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die groben Theile unſers Koͤrpers, aber nicht die feinere Struktur deſſelben kennen, nicht die innern bewegenden Kraͤfte, nicht die Art und Weiſe, wie die Zerruͤttungen in ihnen entſtehen, weil wir eben ſo wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer naͤchſten Wirkungen erforſchen koͤnnen, und weil es nicht moͤglich iſt, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die ungeheure Menge der nicht in Anſchlag zu bringenden mitwir¬ kenden Umſtaͤnde und Zufaͤlle die vorſichtigſten Schluͤſſe der beſten Logik ſchwankend und unzuverlaͤſſig macht. Die Erfahrung be¬ weiſet dies Raiſonnement! — Glauben Sie mir auf mein Wort, liebe Frau Baſe, in demſelben Falle, wo man in Deutſchland purgirt, laͤßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und China in England. Letzteres in Deutſchland thun, hieße toͤdten, und dort werden die Leute geſund davon, und wuͤrden es hoͤchſt wahrſcheinlich noch beſſer, wenn ſie gar nichts naͤhmen. So viele geſcheidte, weiſe Leute haben ſeit zweitauſend Jahren ge¬ dacht, geforſcht und geſchrieben, und dennoch lacht noch immer der von heute uͤber den von geſtern, und nicht einmal uͤber die Behandlung eines einfachen Fiebers iſt man in’s Reine! — Um in der Laufbahn eines praktiſchen Arztes gluͤcklich zu ſein, muß man entweder keinen Verſtand haben, oder ſeinen Verſtand gefangen nehmen, und glaͤubig werden an Ein Syſtem, oder roh genug ſein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn, das Geld in den Beutel ſtreichen, und in’s Faͤuſtchen lachen zu koͤnnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/69
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/69>, abgerufen am 23.11.2024.