Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

verdiene." Er antwortete, ich sei ein Original, und ließ mich
ruhig! -- Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm
gewesen war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an sich fesseln
zu können.

Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen früh aus¬
gegangen, und ich frühstückte allein mit Madame, die der fran¬
zösischen Sitte gemäß noch im Bette lag. -- Verheirathet nur
aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der
Fall ist, und überdies noch mit einem alten grauhärigen Manne,
stand sie schon seit neun Jahren in der engsten, vertrautesten
Verbindung mit einem gewissen Monsieur de Jaucourt, einem
der Abgeordneten an der zweiten Assemblee. Madame de la
Chatre bekam einen Brief, während wir noch Thee tranken, und
sie hatt' ihn kaum halb gelesen, so fiel sie in Convulsionen, die
bald auf einen fürchterlichen Grad zunahmen. -- Sie schrie, sie
weinte, sie schlug mit Händen und Füßen, sie wollte sterben, sie
wollte fort auf der Stelle nach Paris. -- Ihr Kammermädchen
und ihr Sohn stürzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und
machten noch mehr Lärm wie die Kranke selbst. Ich schickte sie
fort, um Narbonne zu suchen. -- Die arme Frau fiel aus einem
Paroxysmus in den andern, sie rief unablässig: "Es ist vorbei,
er ist verloren, sie haben ihn festgenommen; sie werden ihn um¬
bringen!" -- Ich schloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt
worden sei, und das war auch wirklich der Fall. -- Ihr Zustand
fing nun an, mich doppelt zu interessiren, denn ich dachte, die
hätt' eine sehr gute Gattin werden müssen unter andern Um¬
ständen, welche nach neunjährigem Umgang noch so heftig für
Jemand fühlt, dem sie gut ist! -- Ich wurde von diesem Augen¬
blick an verliebt in Madame de la Chatre.

Ihre Anfälle wurden immer ärger, ich hatte nie so was
Fürchterliches gesehn und wußte mir keinen Rath mehr; als

verdiene.“ Er antwortete, ich ſei ein Original, und ließ mich
ruhig! — Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm
geweſen war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an ſich feſſeln
zu koͤnnen.

Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen fruͤh aus¬
gegangen, und ich fruͤhſtuͤckte allein mit Madame, die der fran¬
zoͤſiſchen Sitte gemaͤß noch im Bette lag. — Verheirathet nur
aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der
Fall iſt, und uͤberdies noch mit einem alten grauhaͤrigen Manne,
ſtand ſie ſchon ſeit neun Jahren in der engſten, vertrauteſten
Verbindung mit einem gewiſſen Monſieur de Jaucourt, einem
der Abgeordneten an der zweiten Aſſemblee. Madame de la
Châtre bekam einen Brief, waͤhrend wir noch Thee tranken, und
ſie hatt' ihn kaum halb geleſen, ſo fiel ſie in Convulſionen, die
bald auf einen fuͤrchterlichen Grad zunahmen. — Sie ſchrie, ſie
weinte, ſie ſchlug mit Haͤnden und Fuͤßen, ſie wollte ſterben, ſie
wollte fort auf der Stelle nach Paris. — Ihr Kammermaͤdchen
und ihr Sohn ſtuͤrzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und
machten noch mehr Laͤrm wie die Kranke ſelbſt. Ich ſchickte ſie
fort, um Narbonne zu ſuchen. — Die arme Frau fiel aus einem
Paroxysmus in den andern, ſie rief unablaͤſſig: „Es iſt vorbei,
er iſt verloren, ſie haben ihn feſtgenommen; ſie werden ihn um¬
bringen!“ — Ich ſchloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt
worden ſei, und das war auch wirklich der Fall. — Ihr Zuſtand
fing nun an, mich doppelt zu intereſſiren, denn ich dachte, die
haͤtt' eine ſehr gute Gattin werden muͤſſen unter andern Um¬
ſtaͤnden, welche nach neunjaͤhrigem Umgang noch ſo heftig fuͤr
Jemand fuͤhlt, dem ſie gut iſt! — Ich wurde von dieſem Augen¬
blick an verliebt in Madame de la Châtre.

Ihre Anfaͤlle wurden immer aͤrger, ich hatte nie ſo was
Fuͤrchterliches geſehn und wußte mir keinen Rath mehr; als

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0054" n="40"/>
verdiene.&#x201C; Er antwortete, ich &#x017F;ei ein Original, und ließ mich<lb/>
ruhig! &#x2014; Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm<lb/>
gewe&#x017F;en war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an &#x017F;ich fe&#x017F;&#x017F;eln<lb/>
zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
              <p>Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen fru&#x0364;h aus¬<lb/>
gegangen, und ich fru&#x0364;h&#x017F;tu&#x0364;ckte allein mit Madame, die der fran¬<lb/>
zo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Sitte gema&#x0364;ß noch im Bette lag. &#x2014; Verheirathet nur<lb/>
aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der<lb/>
Fall i&#x017F;t, und u&#x0364;berdies noch mit einem alten grauha&#x0364;rigen Manne,<lb/>
&#x017F;tand &#x017F;ie &#x017F;chon &#x017F;eit neun Jahren in der eng&#x017F;ten, vertraute&#x017F;ten<lb/>
Verbindung mit einem gewi&#x017F;&#x017F;en Mon&#x017F;ieur de Jaucourt, einem<lb/>
der Abgeordneten an der zweiten A&#x017F;&#x017F;emblee. Madame de la<lb/>
Ch<hi rendition="#aq">â</hi>tre bekam einen Brief, wa&#x0364;hrend wir noch Thee tranken, und<lb/>
&#x017F;ie hatt' ihn kaum halb gele&#x017F;en, &#x017F;o fiel &#x017F;ie in Convul&#x017F;ionen, die<lb/>
bald auf einen fu&#x0364;rchterlichen Grad zunahmen. &#x2014; Sie &#x017F;chrie, &#x017F;ie<lb/>
weinte, &#x017F;ie &#x017F;chlug mit Ha&#x0364;nden und Fu&#x0364;ßen, &#x017F;ie wollte &#x017F;terben, &#x017F;ie<lb/>
wollte fort auf der Stelle nach Paris. &#x2014; Ihr Kammerma&#x0364;dchen<lb/>
und ihr Sohn &#x017F;tu&#x0364;rzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und<lb/>
machten noch mehr La&#x0364;rm wie die Kranke &#x017F;elb&#x017F;t. Ich &#x017F;chickte &#x017F;ie<lb/>
fort, um Narbonne zu &#x017F;uchen. &#x2014; Die arme Frau fiel aus einem<lb/>
Paroxysmus in den andern, &#x017F;ie rief unabla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig: &#x201E;Es i&#x017F;t vorbei,<lb/>
er i&#x017F;t verloren, &#x017F;ie haben ihn fe&#x017F;tgenommen; &#x017F;ie werden ihn um¬<lb/>
bringen!&#x201C; &#x2014; Ich &#x017F;chloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt<lb/>
worden &#x017F;ei, und das war auch wirklich der Fall. &#x2014; Ihr Zu&#x017F;tand<lb/>
fing nun an, mich doppelt zu intere&#x017F;&#x017F;iren, denn ich dachte, die<lb/>
ha&#x0364;tt' eine &#x017F;ehr gute Gattin werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en unter andern Um¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden, welche nach neunja&#x0364;hrigem Umgang noch &#x017F;o heftig fu&#x0364;r<lb/>
Jemand fu&#x0364;hlt, dem &#x017F;ie gut i&#x017F;t! &#x2014; Ich wurde von die&#x017F;em Augen¬<lb/>
blick an verliebt in Madame de la Ch<hi rendition="#aq">â</hi>tre.</p><lb/>
              <p>Ihre Anfa&#x0364;lle wurden immer a&#x0364;rger, ich hatte nie &#x017F;o was<lb/>
Fu&#x0364;rchterliches ge&#x017F;ehn und wußte mir keinen Rath mehr; als<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0054] verdiene.“ Er antwortete, ich ſei ein Original, und ließ mich ruhig! — Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm geweſen war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an ſich feſſeln zu koͤnnen. Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen fruͤh aus¬ gegangen, und ich fruͤhſtuͤckte allein mit Madame, die der fran¬ zoͤſiſchen Sitte gemaͤß noch im Bette lag. — Verheirathet nur aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der Fall iſt, und uͤberdies noch mit einem alten grauhaͤrigen Manne, ſtand ſie ſchon ſeit neun Jahren in der engſten, vertrauteſten Verbindung mit einem gewiſſen Monſieur de Jaucourt, einem der Abgeordneten an der zweiten Aſſemblee. Madame de la Châtre bekam einen Brief, waͤhrend wir noch Thee tranken, und ſie hatt' ihn kaum halb geleſen, ſo fiel ſie in Convulſionen, die bald auf einen fuͤrchterlichen Grad zunahmen. — Sie ſchrie, ſie weinte, ſie ſchlug mit Haͤnden und Fuͤßen, ſie wollte ſterben, ſie wollte fort auf der Stelle nach Paris. — Ihr Kammermaͤdchen und ihr Sohn ſtuͤrzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und machten noch mehr Laͤrm wie die Kranke ſelbſt. Ich ſchickte ſie fort, um Narbonne zu ſuchen. — Die arme Frau fiel aus einem Paroxysmus in den andern, ſie rief unablaͤſſig: „Es iſt vorbei, er iſt verloren, ſie haben ihn feſtgenommen; ſie werden ihn um¬ bringen!“ — Ich ſchloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt worden ſei, und das war auch wirklich der Fall. — Ihr Zuſtand fing nun an, mich doppelt zu intereſſiren, denn ich dachte, die haͤtt' eine ſehr gute Gattin werden muͤſſen unter andern Um¬ ſtaͤnden, welche nach neunjaͤhrigem Umgang noch ſo heftig fuͤr Jemand fuͤhlt, dem ſie gut iſt! — Ich wurde von dieſem Augen¬ blick an verliebt in Madame de la Châtre. Ihre Anfaͤlle wurden immer aͤrger, ich hatte nie ſo was Fuͤrchterliches geſehn und wußte mir keinen Rath mehr; als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/54
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/54>, abgerufen am 03.05.2024.