Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

diese zurück! Es war mir, als wenn alles, was ich
bei dem Namen je gedacht und empfunden, sich noch
eiligst auflösen, und zu einer Persönlichkeit verkörpern
sollte, die sich sogleich an der wirklichen, leibhaftig mir
gegenüberstehenden, zu prüfen haben würde. Aber
welcher Empfang stand mir bevor! Ich mußte, als
ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren lassen, was die
langjährige, tiefgenährte Bekanntschaft mit dem Dichter
mir einflößen gekonnt, um nur mit dem neubekannten,
wirksamen Menschen beschäftigt zu sein, der mild, freund¬
lich, treuherzig, anmuthig, geistvoll, kraftreich, mir das
Bild eines ganzen Menschen -- wenn dieser geringe
Ausdruck der hohen Bedeutung fähig ist, -- in voll¬
ständig ausgebreiteter großartiger, schöner Lebensent¬
wickelung vergegenwärtigte. Das seltene Glück -- hier
wohl unverdient, doch nicht unwürdig empfangen --
einer so milden und biedern Aufnahme, als sei ich ein
alter Freund, der längst erwartet worden, mußte mich
um so mehr überraschen, als ich die scheue Zurückhal¬
tung, die ihm so oft vorgeworfen worden, in den schrift¬
lichen Berührungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz
hatte vermissen können. Nach der ersten Begrüßung,
wobei er mir die Hand reichte, sprachen wir gleich sehr
vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir seine
Hand hin, und rief mit Innigkeit: "Sie müssen mir
nochmal die Hand geben!" Vergebens würde ich
Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art

dieſe zuruͤck! Es war mir, als wenn alles, was ich
bei dem Namen je gedacht und empfunden, ſich noch
eiligſt aufloͤſen, und zu einer Perſoͤnlichkeit verkoͤrpern
ſollte, die ſich ſogleich an der wirklichen, leibhaftig mir
gegenuͤberſtehenden, zu pruͤfen haben wuͤrde. Aber
welcher Empfang ſtand mir bevor! Ich mußte, als
ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren laſſen, was die
langjaͤhrige, tiefgenaͤhrte Bekanntſchaft mit dem Dichter
mir einfloͤßen gekonnt, um nur mit dem neubekannten,
wirkſamen Menſchen beſchaͤftigt zu ſein, der mild, freund¬
lich, treuherzig, anmuthig, geiſtvoll, kraftreich, mir das
Bild eines ganzen Menſchen — wenn dieſer geringe
Ausdruck der hohen Bedeutung faͤhig iſt, — in voll¬
ſtaͤndig ausgebreiteter großartiger, ſchoͤner Lebensent¬
wickelung vergegenwaͤrtigte. Das ſeltene Gluͤck — hier
wohl unverdient, doch nicht unwuͤrdig empfangen —
einer ſo milden und biedern Aufnahme, als ſei ich ein
alter Freund, der laͤngſt erwartet worden, mußte mich
um ſo mehr uͤberraſchen, als ich die ſcheue Zuruͤckhal¬
tung, die ihm ſo oft vorgeworfen worden, in den ſchrift¬
lichen Beruͤhrungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz
hatte vermiſſen koͤnnen. Nach der erſten Begruͤßung,
wobei er mir die Hand reichte, ſprachen wir gleich ſehr
vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir ſeine
Hand hin, und rief mit Innigkeit: „Sie muͤſſen mir
nochmal die Hand geben!“ Vergebens wuͤrde ich
Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0441" n="427"/>
die&#x017F;e zuru&#x0364;ck! Es war mir, als wenn alles, was ich<lb/>
bei dem Namen je gedacht und empfunden, &#x017F;ich noch<lb/>
eilig&#x017F;t auflo&#x0364;&#x017F;en, und zu einer Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit verko&#x0364;rpern<lb/>
&#x017F;ollte, die &#x017F;ich &#x017F;ogleich an der wirklichen, leibhaftig mir<lb/>
gegenu&#x0364;ber&#x017F;tehenden, zu pru&#x0364;fen haben wu&#x0364;rde. Aber<lb/>
welcher Empfang &#x017F;tand mir bevor! Ich mußte, als<lb/>
ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren la&#x017F;&#x017F;en, was die<lb/>
langja&#x0364;hrige, tiefgena&#x0364;hrte Bekannt&#x017F;chaft mit dem Dichter<lb/>
mir einflo&#x0364;ßen gekonnt, um nur mit dem neubekannten,<lb/>
wirk&#x017F;amen Men&#x017F;chen be&#x017F;cha&#x0364;ftigt zu &#x017F;ein, der mild, freund¬<lb/>
lich, treuherzig, anmuthig, gei&#x017F;tvoll, kraftreich, mir das<lb/>
Bild eines <hi rendition="#g">ganzen</hi> Men&#x017F;chen &#x2014; wenn die&#x017F;er geringe<lb/>
Ausdruck der hohen Bedeutung fa&#x0364;hig i&#x017F;t, &#x2014; in voll¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig ausgebreiteter großartiger, &#x017F;cho&#x0364;ner Lebensent¬<lb/>
wickelung vergegenwa&#x0364;rtigte. Das &#x017F;eltene Glu&#x0364;ck &#x2014; hier<lb/>
wohl unverdient, doch nicht unwu&#x0364;rdig empfangen &#x2014;<lb/>
einer &#x017F;o milden und biedern Aufnahme, als &#x017F;ei ich ein<lb/>
alter Freund, der la&#x0364;ng&#x017F;t erwartet worden, mußte mich<lb/>
um &#x017F;o mehr u&#x0364;berra&#x017F;chen, als ich die &#x017F;cheue Zuru&#x0364;ckhal¬<lb/>
tung, die ihm &#x017F;o oft vorgeworfen worden, in den &#x017F;chrift¬<lb/>
lichen Beru&#x0364;hrungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz<lb/>
hatte vermi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen. Nach der er&#x017F;ten Begru&#x0364;ßung,<lb/>
wobei er mir die Hand reichte, &#x017F;prachen wir gleich &#x017F;ehr<lb/>
vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir &#x017F;eine<lb/>
Hand hin, und rief mit Innigkeit: &#x201E;Sie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en mir<lb/>
nochmal die Hand geben!&#x201C; Vergebens wu&#x0364;rde ich<lb/>
Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[427/0441] dieſe zuruͤck! Es war mir, als wenn alles, was ich bei dem Namen je gedacht und empfunden, ſich noch eiligſt aufloͤſen, und zu einer Perſoͤnlichkeit verkoͤrpern ſollte, die ſich ſogleich an der wirklichen, leibhaftig mir gegenuͤberſtehenden, zu pruͤfen haben wuͤrde. Aber welcher Empfang ſtand mir bevor! Ich mußte, als ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren laſſen, was die langjaͤhrige, tiefgenaͤhrte Bekanntſchaft mit dem Dichter mir einfloͤßen gekonnt, um nur mit dem neubekannten, wirkſamen Menſchen beſchaͤftigt zu ſein, der mild, freund¬ lich, treuherzig, anmuthig, geiſtvoll, kraftreich, mir das Bild eines ganzen Menſchen — wenn dieſer geringe Ausdruck der hohen Bedeutung faͤhig iſt, — in voll¬ ſtaͤndig ausgebreiteter großartiger, ſchoͤner Lebensent¬ wickelung vergegenwaͤrtigte. Das ſeltene Gluͤck — hier wohl unverdient, doch nicht unwuͤrdig empfangen — einer ſo milden und biedern Aufnahme, als ſei ich ein alter Freund, der laͤngſt erwartet worden, mußte mich um ſo mehr uͤberraſchen, als ich die ſcheue Zuruͤckhal¬ tung, die ihm ſo oft vorgeworfen worden, in den ſchrift¬ lichen Beruͤhrungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz hatte vermiſſen koͤnnen. Nach der erſten Begruͤßung, wobei er mir die Hand reichte, ſprachen wir gleich ſehr vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir ſeine Hand hin, und rief mit Innigkeit: „Sie muͤſſen mir nochmal die Hand geben!“ Vergebens wuͤrde ich Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/441
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/441>, abgerufen am 22.11.2024.