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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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III. Das Ei während der Fruchtentwickelung.
Wir wollen daher das hierher Gehörende unter gewisse Hauptru-
briken bringen, um wiederum die Erfahrung zu machen, wie sehr
der menschliche Geist sich bei dem besten Willen verirren kann, so-
bald er den sicheren Weg der ruhigen und vorurtheilsfreien Beob-
achtung verlässt oder aus einzelnen, abgerissenen Momenten auf das
Ganze Schlüsse sich erlaubt. 1. Eine der grössten Verirrungen stellt
die Behauptung dar, dass die Zotten des Chorion selbst Blutgefässe
seyen. In Deutschland hat diese Verirrung, welche mit jedem wahren
Begriffe von Blutgefässen in Widerspruch steht, nie sehr festen
Fuss gefasst. Durch die Widerlegungen von Carus (Siebold
Journ. 1827. S. 20.), Breschet, Raspail (Heusingers Zeitschr. Bd.
II.), Velpeau (l. c. p. 14.) u. A. dürfte sie überhaupt aus dem
Gebiete der Wissenschaft entfernt seyn. 2. Dass das Chorion
Blutgefässe enthalte, dürfte nach den Untersuchungen an Thieren
dahin zu berichtigen seyn, dass nur dem Endochorion diese Ge-
fässe angehören. Von den in den Flocken des Chorion, welche
zu dem Fruchtkuchen eingehen, befindlichen Blutgefässen ist die-
ser Ursprung wohl keinem Zweifel unterworfen. Allein es hatte
wohl offenbar denselben Grund, wenn Joh. Müller (s. Arch. Hft.
I. S. 6.) an einem Eie, welches noch keine Placenta hatte,
die frisch untersuchten Nabelgefässe deutlich bluthaltig von der
Eintrittsstelle in das Chorion aus zwischen den Zotten desselben
in einigem Umfange sich verbreiten sah. Denn die Hüftnabelge-
fässe gehören dem Endochorion an. Wenn übrigens derselbe
Schriftsteller (l. c. p. 7.) behauptet, dass es späterhin nicht ge-
linge, auf der Oberfläche des Chorions selbst Gefässe nachzuwei-
sen, so spricht die Erfahrung von E. H. Weber (Hildebr. Anat.
IV. S. 493.) zum Theil dagegen, nach welcher bei reifen Eiern
zu dem nicht in den Fruchtkuchen eingehenden Theile des zotti-
gen Chorion sehr enge Fortsetzungen der Nabelgefässe verlaufen,
während die völlig glatten Stellen ganz ohne sichtbare Blutge-
fässe sind. 3. Manche Schriftsteller wurden zu der Ansicht ver-
leitet, dass das Chorion des Menschen, wie man an vielen abor-
tirten Eiern es sehen könne, blutgefässlos sey. Allein da bei dem
Menschen noch kein gesundes Ei beschrieben worden, in welchem
noch Exochorion und Endochorion getrennt gewesen wären, so
dürfte ein aus den bekannten Eiern gezogener Schluss eben so
unrichtig seyn. Man sieht dieses auch an der Methode, nach
welcher die Schriftsteller ihre Behauptung darzuthun sich bemü-

III. Das Ei während der Fruchtentwickelung.
Wir wollen daher das hierher Gehörende unter gewiſse Hauptru-
briken bringen, um wiederum die Erfahrung zu machen, wie sehr
der menschliche Geist sich bei dem besten Willen verirren kann, so-
bald er den sicheren Weg der ruhigen und vorurtheilsfreien Beob-
achtung verläſst oder aus einzelnen, abgerissenen Momenten auf das
Ganze Schlüsse sich erlaubt. 1. Eine der gröſsten Verirrungen stellt
die Behauptung dar, daſs die Zotten des Chorion selbst Blutgefäſse
seyen. In Deutschland hat diese Verirrung, welche mit jedem wahren
Begriffe von Blutgefäſsen in Widerspruch steht, nie sehr festen
Fuſs gefaſst. Durch die Widerlegungen von Carus (Siebold
Journ. 1827. S. 20.), Breschet, Raspail (Heusingers Zeitschr. Bd.
II.), Velpeau (l. c. p. 14.) u. A. dürfte sie überhaupt aus dem
Gebiete der Wissenschaft entfernt seyn. 2. Daſs das Chorion
Blutgefäſse enthalte, dürfte nach den Untersuchungen an Thieren
dahin zu berichtigen seyn, daſs nur dem Endochorion diese Ge-
fäſse angehören. Von den in den Flocken des Chorion, welche
zu dem Fruchtkuchen eingehen, befindlichen Blutgefäſsen ist die-
ser Ursprung wohl keinem Zweifel unterworfen. Allein es hatte
wohl offenbar denselben Grund, wenn Joh. Müller (s. Arch. Hft.
I. S. 6.) an einem Eie, welches noch keine Placenta hatte,
die frisch untersuchten Nabelgefäſse deutlich bluthaltig von der
Eintrittsstelle in das Chorion aus zwischen den Zotten desselben
in einigem Umfange sich verbreiten sah. Denn die Hüftnabelge-
fäſse gehören dem Endochorion an. Wenn übrigens derselbe
Schriftsteller (l. c. p. 7.) behauptet, daſs es späterhin nicht ge-
linge, auf der Oberfläche des Chorions selbst Gefäſse nachzuwei-
sen, so spricht die Erfahrung von E. H. Weber (Hildebr. Anat.
IV. S. 493.) zum Theil dagegen, nach welcher bei reifen Eiern
zu dem nicht in den Fruchtkuchen eingehenden Theile des zotti-
gen Chorion sehr enge Fortsetzungen der Nabelgefäſse verlaufen,
während die völlig glatten Stellen ganz ohne sichtbare Blutge-
fäſse sind. 3. Manche Schriftsteller wurden zu der Ansicht ver-
leitet, daſs das Chorion des Menschen, wie man an vielen abor-
tirten Eiern es sehen könne, blutgefäſslos sey. Allein da bei dem
Menschen noch kein gesundes Ei beschrieben worden, in welchem
noch Exochorion und Endochorion getrennt gewesen wären, so
dürfte ein aus den bekannten Eiern gezogener Schluſs eben so
unrichtig seyn. Man sieht dieses auch an der Methode, nach
welcher die Schriftsteller ihre Behauptung darzuthun sich bemü-

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[88/0116] III. Das Ei während der Fruchtentwickelung. Wir wollen daher das hierher Gehörende unter gewiſse Hauptru- briken bringen, um wiederum die Erfahrung zu machen, wie sehr der menschliche Geist sich bei dem besten Willen verirren kann, so- bald er den sicheren Weg der ruhigen und vorurtheilsfreien Beob- achtung verläſst oder aus einzelnen, abgerissenen Momenten auf das Ganze Schlüsse sich erlaubt. 1. Eine der gröſsten Verirrungen stellt die Behauptung dar, daſs die Zotten des Chorion selbst Blutgefäſse seyen. In Deutschland hat diese Verirrung, welche mit jedem wahren Begriffe von Blutgefäſsen in Widerspruch steht, nie sehr festen Fuſs gefaſst. Durch die Widerlegungen von Carus (Siebold Journ. 1827. S. 20.), Breschet, Raspail (Heusingers Zeitschr. Bd. II.), Velpeau (l. c. p. 14.) u. A. dürfte sie überhaupt aus dem Gebiete der Wissenschaft entfernt seyn. 2. Daſs das Chorion Blutgefäſse enthalte, dürfte nach den Untersuchungen an Thieren dahin zu berichtigen seyn, daſs nur dem Endochorion diese Ge- fäſse angehören. Von den in den Flocken des Chorion, welche zu dem Fruchtkuchen eingehen, befindlichen Blutgefäſsen ist die- ser Ursprung wohl keinem Zweifel unterworfen. Allein es hatte wohl offenbar denselben Grund, wenn Joh. Müller (s. Arch. Hft. I. S. 6.) an einem Eie, welches noch keine Placenta hatte, die frisch untersuchten Nabelgefäſse deutlich bluthaltig von der Eintrittsstelle in das Chorion aus zwischen den Zotten desselben in einigem Umfange sich verbreiten sah. Denn die Hüftnabelge- fäſse gehören dem Endochorion an. Wenn übrigens derselbe Schriftsteller (l. c. p. 7.) behauptet, daſs es späterhin nicht ge- linge, auf der Oberfläche des Chorions selbst Gefäſse nachzuwei- sen, so spricht die Erfahrung von E. H. Weber (Hildebr. Anat. IV. S. 493.) zum Theil dagegen, nach welcher bei reifen Eiern zu dem nicht in den Fruchtkuchen eingehenden Theile des zotti- gen Chorion sehr enge Fortsetzungen der Nabelgefäſse verlaufen, während die völlig glatten Stellen ganz ohne sichtbare Blutge- fäſse sind. 3. Manche Schriftsteller wurden zu der Ansicht ver- leitet, daſs das Chorion des Menschen, wie man an vielen abor- tirten Eiern es sehen könne, blutgefäſslos sey. Allein da bei dem Menschen noch kein gesundes Ei beschrieben worden, in welchem noch Exochorion und Endochorion getrennt gewesen wären, so dürfte ein aus den bekannten Eiern gezogener Schluſs eben so unrichtig seyn. Man sieht dieses auch an der Methode, nach welcher die Schriftsteller ihre Behauptung darzuthun sich bemü-

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/116>, abgerufen am 27.04.2024.