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Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Scholastika warf sich zitternd an dem Lager nieder, sie ergriff die abgemagerten Hände der Sterbenden und preßte sie unter Thränen an ihre Lippen. In diesem Augenblick erscholl an der Mauer des Klostergebäudes das verabredete Zeichen. Die arme gepeinigte Nonne, der es galt, sprang auf und sah mit einem wilden, verzweifelten Blicke vor sich hin.

Gieb mir die Hand zum Zeichen deines heiligen Versprechens! rief die Kranke.

Scholastika stand wie eine Gerichtete da. Das Zeichen ließ sich noch einmal hören, und mit einem lauten Ausruf: Zu ihm, zu ihm! stürzte die Unglückliche aus dem Gemach. Ein Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung tönte ihr nach.

In ihre dunkeln Schleier gehüllt, stahl sich die Fliehende aus der kleinen Klosterpforte nach der Gartenseite zu. Die Nacht war stürmisch geworden. Oben aus den Zellen Marfa's und Feodora's blickte noch Lichtschein. Scholastika winkte den Zurückbleibenden ein Lebewohl zu und durchdrang die schwarzen, nächtlich rauschenden Gebüsche mit eilendem Schritte. Als sie auf eine kleine Anhöhe gelangt war, sah sie die dunkle Gestalt eines Mannes, der riesig erschien, weil sich der Schattenumriß scharf gegen den Himmel abzeichnete. Als sie näher hinzueilte, kam ihr Dimitri entgegen, umschloß sie und drückte feurige Küsse ihr auf Stirn und Wangen. Ohne ein Wort zu wechseln, eilten Beide rasch vorwärts. Bald erkannte sich an einem kühleren Zugwinde

Scholastika warf sich zitternd an dem Lager nieder, sie ergriff die abgemagerten Hände der Sterbenden und preßte sie unter Thränen an ihre Lippen. In diesem Augenblick erscholl an der Mauer des Klostergebäudes das verabredete Zeichen. Die arme gepeinigte Nonne, der es galt, sprang auf und sah mit einem wilden, verzweifelten Blicke vor sich hin.

Gieb mir die Hand zum Zeichen deines heiligen Versprechens! rief die Kranke.

Scholastika stand wie eine Gerichtete da. Das Zeichen ließ sich noch einmal hören, und mit einem lauten Ausruf: Zu ihm, zu ihm! stürzte die Unglückliche aus dem Gemach. Ein Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung tönte ihr nach.

In ihre dunkeln Schleier gehüllt, stahl sich die Fliehende aus der kleinen Klosterpforte nach der Gartenseite zu. Die Nacht war stürmisch geworden. Oben aus den Zellen Marfa's und Feodora's blickte noch Lichtschein. Scholastika winkte den Zurückbleibenden ein Lebewohl zu und durchdrang die schwarzen, nächtlich rauschenden Gebüsche mit eilendem Schritte. Als sie auf eine kleine Anhöhe gelangt war, sah sie die dunkle Gestalt eines Mannes, der riesig erschien, weil sich der Schattenumriß scharf gegen den Himmel abzeichnete. Als sie näher hinzueilte, kam ihr Dimitri entgegen, umschloß sie und drückte feurige Küsse ihr auf Stirn und Wangen. Ohne ein Wort zu wechseln, eilten Beide rasch vorwärts. Bald erkannte sich an einem kühleren Zugwinde

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[0077] Scholastika warf sich zitternd an dem Lager nieder, sie ergriff die abgemagerten Hände der Sterbenden und preßte sie unter Thränen an ihre Lippen. In diesem Augenblick erscholl an der Mauer des Klostergebäudes das verabredete Zeichen. Die arme gepeinigte Nonne, der es galt, sprang auf und sah mit einem wilden, verzweifelten Blicke vor sich hin. Gieb mir die Hand zum Zeichen deines heiligen Versprechens! rief die Kranke. Scholastika stand wie eine Gerichtete da. Das Zeichen ließ sich noch einmal hören, und mit einem lauten Ausruf: Zu ihm, zu ihm! stürzte die Unglückliche aus dem Gemach. Ein Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung tönte ihr nach. In ihre dunkeln Schleier gehüllt, stahl sich die Fliehende aus der kleinen Klosterpforte nach der Gartenseite zu. Die Nacht war stürmisch geworden. Oben aus den Zellen Marfa's und Feodora's blickte noch Lichtschein. Scholastika winkte den Zurückbleibenden ein Lebewohl zu und durchdrang die schwarzen, nächtlich rauschenden Gebüsche mit eilendem Schritte. Als sie auf eine kleine Anhöhe gelangt war, sah sie die dunkle Gestalt eines Mannes, der riesig erschien, weil sich der Schattenumriß scharf gegen den Himmel abzeichnete. Als sie näher hinzueilte, kam ihr Dimitri entgegen, umschloß sie und drückte feurige Küsse ihr auf Stirn und Wangen. Ohne ein Wort zu wechseln, eilten Beide rasch vorwärts. Bald erkannte sich an einem kühleren Zugwinde

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

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Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/77>, abgerufen am 05.05.2024.