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Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Mehre Wochen waren vergangen; Scholastika saß an dem Krankenbette Rebecca's, die langsam dahinsiechte. Das arme, schwache, körperlich und geistig verkümmerte Wesen schien, da es sich seiner Auflösung näherte, einem neuen Tageslichte entgegenzugehen. Der schwere Bann, der auf ihrem Geiste lag, wurde von der Hand des düstern Genius gehoben, der mit der andern Hand die Todesfackel schwang. Scholastika las in den Mienen der Kranken die Geschichte einer räthselhaften und schnell um sich greifenden Sinnesänderung; die klare, feingewölbte Stirn zeigte in fast durchsichtiger Hülle den rapiden Flug der Gedanken, das Zucken und Vorbeirauschen der Bilder. Alles an diesem Antlitze, das in seinem frühern Zustande einer Larve von Gips geglichen, war jetzt zuckender Nerv, gestaltenbringende Miene. Das Auge, wenn auch geschlossen, gab den Eindruck eines sehenden; man konnte das aufwärts und nieder Bewegen des Augapfels beobachten, je nachdem die phantastischen Traumbilder, die die Kranke beschrieb, ihren Schauplatz im Himmel oder auf Erden aufgeschlagen. Einige dieser Visionen waren von dem Athem einer so stürmischen Phantasie angefacht, daß sie Hymnen glichen, andere hatten Hüllen von Nebel so dicht um sich geschlossen, daß ihre ursprüngliche Deutung schwer, ja fast unmöglich und man in ihnen Orakelsprüche zu hören glaubte, wie sie in den apostolischen Zeiten aus dem Munde der Kranken und Inspirirten tönten. Wenn sie in solchen Momenten den Farbenstift oder die Feder ergriff, so ent-

Mehre Wochen waren vergangen; Scholastika saß an dem Krankenbette Rebecca's, die langsam dahinsiechte. Das arme, schwache, körperlich und geistig verkümmerte Wesen schien, da es sich seiner Auflösung näherte, einem neuen Tageslichte entgegenzugehen. Der schwere Bann, der auf ihrem Geiste lag, wurde von der Hand des düstern Genius gehoben, der mit der andern Hand die Todesfackel schwang. Scholastika las in den Mienen der Kranken die Geschichte einer räthselhaften und schnell um sich greifenden Sinnesänderung; die klare, feingewölbte Stirn zeigte in fast durchsichtiger Hülle den rapiden Flug der Gedanken, das Zucken und Vorbeirauschen der Bilder. Alles an diesem Antlitze, das in seinem frühern Zustande einer Larve von Gips geglichen, war jetzt zuckender Nerv, gestaltenbringende Miene. Das Auge, wenn auch geschlossen, gab den Eindruck eines sehenden; man konnte das aufwärts und nieder Bewegen des Augapfels beobachten, je nachdem die phantastischen Traumbilder, die die Kranke beschrieb, ihren Schauplatz im Himmel oder auf Erden aufgeschlagen. Einige dieser Visionen waren von dem Athem einer so stürmischen Phantasie angefacht, daß sie Hymnen glichen, andere hatten Hüllen von Nebel so dicht um sich geschlossen, daß ihre ursprüngliche Deutung schwer, ja fast unmöglich und man in ihnen Orakelsprüche zu hören glaubte, wie sie in den apostolischen Zeiten aus dem Munde der Kranken und Inspirirten tönten. Wenn sie in solchen Momenten den Farbenstift oder die Feder ergriff, so ent-

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[0046] Mehre Wochen waren vergangen; Scholastika saß an dem Krankenbette Rebecca's, die langsam dahinsiechte. Das arme, schwache, körperlich und geistig verkümmerte Wesen schien, da es sich seiner Auflösung näherte, einem neuen Tageslichte entgegenzugehen. Der schwere Bann, der auf ihrem Geiste lag, wurde von der Hand des düstern Genius gehoben, der mit der andern Hand die Todesfackel schwang. Scholastika las in den Mienen der Kranken die Geschichte einer räthselhaften und schnell um sich greifenden Sinnesänderung; die klare, feingewölbte Stirn zeigte in fast durchsichtiger Hülle den rapiden Flug der Gedanken, das Zucken und Vorbeirauschen der Bilder. Alles an diesem Antlitze, das in seinem frühern Zustande einer Larve von Gips geglichen, war jetzt zuckender Nerv, gestaltenbringende Miene. Das Auge, wenn auch geschlossen, gab den Eindruck eines sehenden; man konnte das aufwärts und nieder Bewegen des Augapfels beobachten, je nachdem die phantastischen Traumbilder, die die Kranke beschrieb, ihren Schauplatz im Himmel oder auf Erden aufgeschlagen. Einige dieser Visionen waren von dem Athem einer so stürmischen Phantasie angefacht, daß sie Hymnen glichen, andere hatten Hüllen von Nebel so dicht um sich geschlossen, daß ihre ursprüngliche Deutung schwer, ja fast unmöglich und man in ihnen Orakelsprüche zu hören glaubte, wie sie in den apostolischen Zeiten aus dem Munde der Kranken und Inspirirten tönten. Wenn sie in solchen Momenten den Farbenstift oder die Feder ergriff, so ent-

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Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/46>, abgerufen am 26.04.2024.