Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Lieben, meine einsamen Stunden, meiner Seele Athemzug und Pulsschlag, mein Schmerz und mein Entzücken -- ach, meine Jugend blickt mir aus diesen Augen entgegen. Es kommt mir wie ein Selbstmord vor, wenn ich gegen diese Gestalt das Messer zücke. Ich kann es nicht! -- Wohlan, wenn es ein Verbrechen und eine Thorheit ist, in der meine arme Seele verstrickt, so werde ich den Anblick des ewigen Himmels nicht ertragen, so wird in den Sternen, dieser goldnen Schrift der Wahrheit, mein Verdammungsurtheil geschrieben stehen. Ich will mich prüfen, ich will den Himmel fragen. Sie trat ans Fenster, und die Hände mit Inbrunst faltend, richtete sie den Blick mit fester, unerschütterlicher Seeleninnigkeit zum Sternendom hinauf. Ein Wonnebeben durchdrang sie; die Stille und Freudigkeit eines kindlichen und beruhigten Herzens erfüllten ihren Busen. Was ist es denn, daß ich zage und fürchte! rief sie. Ist nicht der Himmel mein, bin ich nicht sein? O mein Leben ist voll Glück! Wie die Fülle der Frucht sich in goldnen, süßen Balsamtropfen ergießt, so giebt mein Herz in quellenden Gebets- und Dankesseufzern die ganze innere Schwere und Reife seiner Liebe zu erkennen. Einsam fließen meine Tage dahin, doch auf jeden derselben, wie auf ein Blumenblatt, fällt ein funkelnder, dunkelblauer Thautropfen des Himmels. Ich erhebe mich vom Lager, und die Gestalten meiner Heiligen umstehen mich, ihre Augen blicken mich an, und ihre Mienen, die ich mit verschämter Demuth betrachte, ihre marmornen Stirnen, Lieben, meine einsamen Stunden, meiner Seele Athemzug und Pulsschlag, mein Schmerz und mein Entzücken — ach, meine Jugend blickt mir aus diesen Augen entgegen. Es kommt mir wie ein Selbstmord vor, wenn ich gegen diese Gestalt das Messer zücke. Ich kann es nicht! — Wohlan, wenn es ein Verbrechen und eine Thorheit ist, in der meine arme Seele verstrickt, so werde ich den Anblick des ewigen Himmels nicht ertragen, so wird in den Sternen, dieser goldnen Schrift der Wahrheit, mein Verdammungsurtheil geschrieben stehen. Ich will mich prüfen, ich will den Himmel fragen. Sie trat ans Fenster, und die Hände mit Inbrunst faltend, richtete sie den Blick mit fester, unerschütterlicher Seeleninnigkeit zum Sternendom hinauf. Ein Wonnebeben durchdrang sie; die Stille und Freudigkeit eines kindlichen und beruhigten Herzens erfüllten ihren Busen. Was ist es denn, daß ich zage und fürchte! rief sie. Ist nicht der Himmel mein, bin ich nicht sein? O mein Leben ist voll Glück! Wie die Fülle der Frucht sich in goldnen, süßen Balsamtropfen ergießt, so giebt mein Herz in quellenden Gebets- und Dankesseufzern die ganze innere Schwere und Reife seiner Liebe zu erkennen. Einsam fließen meine Tage dahin, doch auf jeden derselben, wie auf ein Blumenblatt, fällt ein funkelnder, dunkelblauer Thautropfen des Himmels. Ich erhebe mich vom Lager, und die Gestalten meiner Heiligen umstehen mich, ihre Augen blicken mich an, und ihre Mienen, die ich mit verschämter Demuth betrachte, ihre marmornen Stirnen, <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0038"/> Lieben, meine einsamen Stunden, meiner Seele Athemzug und Pulsschlag, mein Schmerz und mein Entzücken — ach, meine Jugend blickt mir aus diesen Augen entgegen. Es kommt mir wie ein Selbstmord vor, wenn ich gegen diese Gestalt das Messer zücke. Ich kann es nicht! — Wohlan, wenn es ein Verbrechen und eine Thorheit ist, in der meine arme Seele verstrickt, so werde ich den Anblick des ewigen Himmels nicht ertragen, so wird in den Sternen, dieser goldnen Schrift der Wahrheit, mein Verdammungsurtheil geschrieben stehen. Ich will mich prüfen, ich will den Himmel fragen.</p><lb/> <p>Sie trat ans Fenster, und die Hände mit Inbrunst faltend, richtete sie den Blick mit fester, unerschütterlicher Seeleninnigkeit zum Sternendom hinauf. Ein Wonnebeben durchdrang sie; die Stille und Freudigkeit eines kindlichen und beruhigten Herzens erfüllten ihren Busen. Was ist es denn, daß ich zage und fürchte! rief sie. Ist nicht der Himmel mein, bin ich nicht sein? O mein Leben ist voll Glück! Wie die Fülle der Frucht sich in goldnen, süßen Balsamtropfen ergießt, so giebt mein Herz in quellenden Gebets- und Dankesseufzern die ganze innere Schwere und Reife seiner Liebe zu erkennen. Einsam fließen meine Tage dahin, doch auf jeden derselben, wie auf ein Blumenblatt, fällt ein funkelnder, dunkelblauer Thautropfen des Himmels. Ich erhebe mich vom Lager, und die Gestalten meiner Heiligen umstehen mich, ihre Augen blicken mich an, und ihre Mienen, die ich mit verschämter Demuth betrachte, ihre marmornen Stirnen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0038]
Lieben, meine einsamen Stunden, meiner Seele Athemzug und Pulsschlag, mein Schmerz und mein Entzücken — ach, meine Jugend blickt mir aus diesen Augen entgegen. Es kommt mir wie ein Selbstmord vor, wenn ich gegen diese Gestalt das Messer zücke. Ich kann es nicht! — Wohlan, wenn es ein Verbrechen und eine Thorheit ist, in der meine arme Seele verstrickt, so werde ich den Anblick des ewigen Himmels nicht ertragen, so wird in den Sternen, dieser goldnen Schrift der Wahrheit, mein Verdammungsurtheil geschrieben stehen. Ich will mich prüfen, ich will den Himmel fragen.
Sie trat ans Fenster, und die Hände mit Inbrunst faltend, richtete sie den Blick mit fester, unerschütterlicher Seeleninnigkeit zum Sternendom hinauf. Ein Wonnebeben durchdrang sie; die Stille und Freudigkeit eines kindlichen und beruhigten Herzens erfüllten ihren Busen. Was ist es denn, daß ich zage und fürchte! rief sie. Ist nicht der Himmel mein, bin ich nicht sein? O mein Leben ist voll Glück! Wie die Fülle der Frucht sich in goldnen, süßen Balsamtropfen ergießt, so giebt mein Herz in quellenden Gebets- und Dankesseufzern die ganze innere Schwere und Reife seiner Liebe zu erkennen. Einsam fließen meine Tage dahin, doch auf jeden derselben, wie auf ein Blumenblatt, fällt ein funkelnder, dunkelblauer Thautropfen des Himmels. Ich erhebe mich vom Lager, und die Gestalten meiner Heiligen umstehen mich, ihre Augen blicken mich an, und ihre Mienen, die ich mit verschämter Demuth betrachte, ihre marmornen Stirnen,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/38 |
Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/38>, abgerufen am 27.07.2024. |