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Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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knüpft sind, ein schwarz und roth gewürfelter Shawl von grober Wolle ist vor den Untertheil des Gesichts gebunden und bildet hinten einen kolossalen Knoten, dessen Enden wie zwei Fledermausflügel in die Nacht flattern. Stiefel von grobem Leder und großen Dimensionen umhüllen die Beine bis übers Knie, Fausthandschuhe von Büffelleder bekleiden die Hände. Auf Schulter, Rücken, Kopf und Beinen dieser Figur liegt hoher Schnee, und die zwei Körbe, die hinten dem Klepper aufgebunden sind, scheinen keinen andern Inhalt zu haben als die Fülle des flockigen, reinen Schnees, der sich in einen einzigen Hügel vereinigt und aufgethürmt hat. Die Nonne schiebt den durchnäßten Shawl vom Munde weg und schreit: Aufgemacht das Thor! Ich komme mit meinen Körben nicht hinein. Ihr Katzen, könnt ihr nicht besser aufpassen, wenn ich komme! Und während Marfa mit großer Mühe den zweiten Thorflügel aufriegelt, zieht die Nonne im Triumph ein, indem sie singt: "Schöne Minka, ich muß scheiden" --

Der Klostername der fünfzigjährigen Nonne war Anna, ihr Taufname jedoch Ljubow. Ihr Vater, der ein heruntergekommener Krämer in Jekatarinoslav war, ließ seinen drei Töchtern die Namen der drei christlichen symbolischen Tugenden, Glaube, Liebe und Hoffnung geben. Er war mit dieser Wahl nicht glücklich. Die Hoffnung (Nadeschda) kam zusammt mit dem Glauben (Vera) in ein Zuchthaus wegen einiger Unregelmäßigkeit im Privatleben und wegen der Unfähigkeit, die Begriffe von Eigenthum

knüpft sind, ein schwarz und roth gewürfelter Shawl von grober Wolle ist vor den Untertheil des Gesichts gebunden und bildet hinten einen kolossalen Knoten, dessen Enden wie zwei Fledermausflügel in die Nacht flattern. Stiefel von grobem Leder und großen Dimensionen umhüllen die Beine bis übers Knie, Fausthandschuhe von Büffelleder bekleiden die Hände. Auf Schulter, Rücken, Kopf und Beinen dieser Figur liegt hoher Schnee, und die zwei Körbe, die hinten dem Klepper aufgebunden sind, scheinen keinen andern Inhalt zu haben als die Fülle des flockigen, reinen Schnees, der sich in einen einzigen Hügel vereinigt und aufgethürmt hat. Die Nonne schiebt den durchnäßten Shawl vom Munde weg und schreit: Aufgemacht das Thor! Ich komme mit meinen Körben nicht hinein. Ihr Katzen, könnt ihr nicht besser aufpassen, wenn ich komme! Und während Marfa mit großer Mühe den zweiten Thorflügel aufriegelt, zieht die Nonne im Triumph ein, indem sie singt: „Schöne Minka, ich muß scheiden“ —

Der Klostername der fünfzigjährigen Nonne war Anna, ihr Taufname jedoch Ljubow. Ihr Vater, der ein heruntergekommener Krämer in Jekatarinoslav war, ließ seinen drei Töchtern die Namen der drei christlichen symbolischen Tugenden, Glaube, Liebe und Hoffnung geben. Er war mit dieser Wahl nicht glücklich. Die Hoffnung (Nadéschda) kam zusammt mit dem Glauben (Véra) in ein Zuchthaus wegen einiger Unregelmäßigkeit im Privatleben und wegen der Unfähigkeit, die Begriffe von Eigenthum

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

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Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/28>, abgerufen am 27.04.2024.