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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

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der Systeme seiner Vorgänger fand er, dass in die-
sen zu wenig Rücksicht auf den Antheil genommen
war, den die Seele an der Hervorbringung jener
Erscheinungen hat; er fand, dass sich mehrere
Phänomene in der thierischen Oekonomie weit zu-
reichender aus dem Einflusse dieses Agens, als aus
mechanischen und chemischen Kräften erklären
liessen. Jetzt wurde die Idee, dass die Seele ein-
zige Ursache alles Lebens sey, bey ihm herrschend;
sie wurde das gefärbte Glas, wodurch er alles an-
sahe, und das Resultat dieser Ansichten wurde ein
System, welches consequenter als irgend eines der
vorigen, und reich an grossen Wahrheiten, aber
auch reich an den ungereimtesten Behauptungen
ist, worauf nur ein Mensch verfallen kann.

Es ist überflüssig, diese Reihe von Beyspielen
weiter fortzusetzen. Man wird immer finden, dass
eine Hauptquelle aller biologischen Irrthümer die
war, dass die Urheber derselben durch gewisse
Lieblingsideen oder Lieblingswissenschaften ver-
führt wurden. Vielseitigkeit ist das Mittel, uns
vor dieser Klippe zu bewahren. Der einseitige
Kopf ist zum Wahrheitsforscher verdorben. Jene
aber erlangen wir nur dadurch, dass wir uns einen
Ueberblick über das ganze Feld des menschlichen
Wissens zu erwerben, den Zusammenhang der ein-
zelnen Theile desselben einzusehen, und den ge-
genseitigen Einfluss der letztern auf einander zu

erfor-

der Systeme seiner Vorgänger fand er, daſs in die-
sen zu wenig Rücksicht auf den Antheil genommen
war, den die Seele an der Hervorbringung jener
Erscheinungen hat; er fand, daſs sich mehrere
Phänomene in der thierischen Oekonomie weit zu-
reichender aus dem Einflusse dieses Agens, als aus
mechanischen und chemischen Kräften erklären
liessen. Jetzt wurde die Idee, daſs die Seele ein-
zige Ursache alles Lebens sey, bey ihm herrschend;
sie wurde das gefärbte Glas, wodurch er alles an-
sahe, und das Resultat dieser Ansichten wurde ein
System, welches consequenter als irgend eines der
vorigen, und reich an groſsen Wahrheiten, aber
auch reich an den ungereimtesten Behauptungen
ist, worauf nur ein Mensch verfallen kann.

Es ist überflüssig, diese Reihe von Beyspielen
weiter fortzusetzen. Man wird immer finden, daſs
eine Hauptquelle aller biologischen Irrthümer die
war, daſs die Urheber derselben durch gewisse
Lieblingsideen oder Lieblingswissenschaften ver-
führt wurden. Vielseitigkeit ist das Mittel, uns
vor dieser Klippe zu bewahren. Der einseitige
Kopf ist zum Wahrheitsforscher verdorben. Jene
aber erlangen wir nur dadurch, daſs wir uns einen
Ueberblick über das ganze Feld des menschlichen
Wissens zu erwerben, den Zusammenhang der ein-
zelnen Theile desselben einzusehen, und den ge-
genseitigen Einfluſs der letztern auf einander zu

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[150/0170] der Systeme seiner Vorgänger fand er, daſs in die- sen zu wenig Rücksicht auf den Antheil genommen war, den die Seele an der Hervorbringung jener Erscheinungen hat; er fand, daſs sich mehrere Phänomene in der thierischen Oekonomie weit zu- reichender aus dem Einflusse dieses Agens, als aus mechanischen und chemischen Kräften erklären liessen. Jetzt wurde die Idee, daſs die Seele ein- zige Ursache alles Lebens sey, bey ihm herrschend; sie wurde das gefärbte Glas, wodurch er alles an- sahe, und das Resultat dieser Ansichten wurde ein System, welches consequenter als irgend eines der vorigen, und reich an groſsen Wahrheiten, aber auch reich an den ungereimtesten Behauptungen ist, worauf nur ein Mensch verfallen kann. Es ist überflüssig, diese Reihe von Beyspielen weiter fortzusetzen. Man wird immer finden, daſs eine Hauptquelle aller biologischen Irrthümer die war, daſs die Urheber derselben durch gewisse Lieblingsideen oder Lieblingswissenschaften ver- führt wurden. Vielseitigkeit ist das Mittel, uns vor dieser Klippe zu bewahren. Der einseitige Kopf ist zum Wahrheitsforscher verdorben. Jene aber erlangen wir nur dadurch, daſs wir uns einen Ueberblick über das ganze Feld des menschlichen Wissens zu erwerben, den Zusammenhang der ein- zelnen Theile desselben einzusehen, und den ge- genseitigen Einfluſs der letztern auf einander zu erfor-

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Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/170>, abgerufen am 04.12.2024.